Hesse, Bettina (Hg.)

Die Philosophie des Singens

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: mairisch Verlag, Hamburg 2019
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 60

„Einsingen bis zum hohen D – und auf dem Podium ist die oberste Terz weg“ – über die Bewältigung dieses Problems findet sich nichts im Buch. Leider kann Fritz Wunderlich über sein Anfängerproblem nicht Auskunft geben, auch Franco Corelli nicht über seine Auftrittsangst, sodass er von der Toilette der Met­ropolitan Opera auf die Bühne geschoben werden musste. Ganz sicher mischen sich da Psychologie und innere Einstellung bis hin zur Philosophie.
Im Buch beschreiben Stimmperformerin Bettina Hesse und ihre 20 AutorInnen zwar auch reale Erlebnisse ihres Singens für sich selbst und von Auftritten als SolistIn, im Ensemble oder Chor, wo das gemeinsame Erleben persönlichkeitsverändernd und formend sein kann.
Doch von Mühe, Selbstzweifeln, Qual des Übens, Misslingen, Scheitern und Bewältigung solcher Negativerfahrungen ist nicht die Rede. Es ist ein „schöngeistiges“ Buch, mit Poesie zu Beginn und am Ende sowie viel Zutreffendem, was Singen in Geist und Seele auslösen und bewirken kann. Das beginnt beim Kinderlied und führt über das Kunstlied zum Chor, zur Improvisation, zu Jazz, Pop und experimenteller Vokalperformance – hier wirkt die Auswahl der AutorInnen überzeugend breit gewählt.
Besonders beeindruckt Ernesto Pérez Zúñigas Flamenco-Exkurs, der zum „Weiterhören“ animiert. Maximilian Probst streift dann wenigstens etwas den Zusammenhang von chorischem Singen, Sozialem und Politik. Sehr hübsch die Episode, wie ein wegen mangelnder Singbegabung nicht in den Jungenchor aufgenommener kleiner Außenseiter dann doch in die Gemeinschaft als „Vorhangaufzieher“ integ­riert wurde, noch treffender, das Grundgesetz als „Songbook der Nation“ zu bezeichnen.
Solcher Klarheit steht dann in einem anderen Beitrag der Satz „Die Zugänglichkeit einer politischen Aussage durch die körperliche Erfahrung kann also etwas Wertvolles sein“ gegenüber – da hätten Herausgeberin Hesse und das Lektorat der 29-jährigen Regiestudentin besser Stefan Donaths Buch Protestchöre – Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands – vor allem verschwurbelten „Philosophieren“ – in die Hand gedrückt. Ansonsten: viel zum schwelgenden Lesen.
Wolf-Dieter Peter