© Andreas Urbanek

Hoos de Jokisch, Barbara

Intuition oder Struktur?

Zur Dramaturgie im Gesangsunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2021 , Seite 18

Gesangsunterricht wird in besonderem Maße von der Intuition der Lehrenden geprägt. Sein Ablauf, seine innere Dramaturgie, ist entscheidend auf die ­persönliche Gestaltung und Strukturie­rung durch die Lehrenden angewiesen.

Rasches, situatives und einfühlsames Reagieren auf die Lernenden, oft ohne Angabe von Ziel und Zweck, dazu ein freies Ausgewichten von Technik und Literatur kennzeichnen die Unterrichtstradition in der Gesangsausbildung seit jeher. Die schottische Sängerin Isobel Baillie (1895-1983) schreibt im Rückblick über ihren Anfangsunterricht: „Das Studium bei Madam Sadler-Fogg bestand aus einer einzigen Unterrichtsstunde pro Woche. Jede Stunde bestand aus Übungen für Vokale, Konsonanten, Tonleitern, Arpeggien und dergleichen. Ich hatte natürlich nicht die geringste Ahnung – weder von ihren Zielen noch von den Absichten, die hinter diesen Übungen steckten, und gab mich völlig damit zufrieden, ihren Wünschen nachzukommen. Doch wie alle eifrigen Schüler fand ich keinen besonderen Gefallen an den Übungen; ich war zu sehr darauf erpicht, endlich mit dem ‚richtigen Singen‘ zu beginnen. Allerdings musste ich mich drei Monate lang gedulden, bevor ich überhaupt ein Lied singen durfte.“1
Die in gelungenen Gesangsunterrichtsstunden enthaltenen unvorhersehbaren Glücksmomente,2 ein wie von selbst sich einstellender Flow, ein genialer Spannungsbogen: Sie verdanken sich dem über lange Zeit erworbenen Erfahrungswissen der Lehrenden, auf das die Intuition im Augenblick zugreift. Die dem Unterricht zugrundeliegende Gesangsmethode3 mag den Lehrenden zwar einen Koffer voller unterschiedlicher Werkzeuge anbieten; wie und wann diese eingesetzt werden, bleibt jedoch meist unbewusst.4
Folgerichtig drängt sich hier zuerst die Frage auf: Darf eine dramaturgische Struktur im Gesangsunterricht überhaupt bewusst angelegt werden, ohne die sensible pädagogische Intuition zu stören? – Ich frage an dieser Stelle sodann weiter: Wäre es nicht denkbar, dass eine sinnvolle Unterrichtsstruktur sogar einen förderlichen Rahmen darstellt, innerhalb dessen sich die Intuition der Lehrenden erst recht entfalten kann? Dass Intuition und Struktur einander unterstützen können, dass eine sinnvolle Struktur das Zustandekommen von Intuition im Gesangsunterricht begünstigen kann – dies ist der Leitgedanke des vorliegenden Aufsatzes. In diesem Sinne formulierte Johann Wolfgang von Goethe die Schlusszeile seines Sonetts Natur und Kunst: „Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“5
Im Folgenden werden die besonderen Voraussetzungen von Gesangsunterricht charakterisiert, sodann werden zwei Strukturmodelle zur sinnvollen Gliederung von komplexen Prozessverläufen vorgestellt. Das erste folgt dem medizinisch-therapeutischen Handlungsablauf und eignet sich zunächst für die Gesamtstruktur des Unterrichts. Das zweite wird in der angelsächsischen Rhetorik praktiziert und kann für die Strukturierung einer thematischen Arbeitsphase dienen. Beide Modelle stellen Angebote dar, mit deren Hilfe Intui­tion und Struktur einander im Gesangsunterricht wirkungsvoll unterstützen können.

Voraussetzungen von Gesangsunterricht

Das spezifische Profil von Gesangsunterricht setzt sich aus vier Faktoren zusammen: der menschlichen Stimme, den Ausgangsbedingungen der SchülerInnen, der Persönlichkeit der Lehrenden sowie der besonderen Interaktion und Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden.
Der Körper des Sängers, der Sängerin selbst ist das Instrument! Dessen Funktionen werden im Unterricht erst noch ausgeprägt und aufeinander abgestimmt. Daher nimmt die Arbeit an der Gesangstechnik – vor allem im klassischen Gesang – einen verhältnismäßig breiten Raum im Unterricht ein. Insgesamt findet Gesangsunterricht auf drei Ebenen statt: auf der technischen, der musikalischen und der ausdrucksmäßigen. Auf allen drei Ebenen wirken Klang und Sprache auf unterschiedliche Weise zusammen.
Klassische Stimmbildung geht im Sinne der aktuellen Gesangspädagogik von der individuellen Stimme und den stimmlichen Grundvoraussetzungen der einzelnen Stimme aus; sie ist auf die Ausbildung des individualisierten Idealtones6 des Schülers, der Schülerin ausgerichtet.
Die von den Lehrenden im Gesangsunterricht verwendeten Übungen und Abläufe sind nicht in gedruckten Schulwerken verankert, sondern bauen weitgehend auf orale Tradi­tion auf. An die Stelle von Schulwerken treten die persönlich erworbenen stimmlichen und künstlerischen Erfahrungen der Lehrenden. Dazu gehört an erster Stelle ihre dia­gnostische Wahrnehmungsfähigkeit – das zentrale Werkzeug für die gesangspädagogische Intuition. Hinzu kommen methodische, stimmphysiologische und repertoirebezogene Kenntnisse.
Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist durch das direkte Arbeiten am Stimminstrument und dem persönlichen emotionalen Ausdruck von besonderer Nähe gekennzeichnet. Dies legt vor allem den Lehrenden besondere Verantwortung und sachorientierte Distanzbereitschaft auf. Es ist bezeichnend, dass geglückte Beziehungen zwischen Gesangslehrenden und ihren SchülerInnen oft lebenslang währen.
Die Faktoren, die den Gesangsunterricht charakterisieren, gehen von der Individualität der Lernenden als auch der Lehrenden aus und sind somit hoch variabel. Durch die allgemeinen Voraussetzungen der Stimme und deren individuelle Ausgestaltung bei jedem einzelnen Menschen sind Lehrende stark auf ihre persönliche Wahrnehmung und Intuition angewiesen. Damit ist ihnen für den Unterricht von vornherein besonders große Gestaltungsfreiheit gegeben.

1 Isobel Baillie: Never sing louder than lovely, London 1982, S. 18 (Übersetzung: Barbara Hoos de Jokisch).
2 s. Ulrich Mahlert: „Unterrichtsaufbau und -dramaturgie“, in: ders.: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht, Mainz 2011, S. 114-124.
3 s. Barbara Hoos de Jokisch: Artikel „Methoden“, in: Ann-Christin Mecke et al. (Hg.): Lexikon des Gesangs, Laaber 2016, S. 413-417.
4 s. Barbara Hoos de Jokisch: „Wie unterrichte ich eigentlich? Die eigene Farbe im Kaleidoskop der Gesangsmethoden“, in: Vox Humana, Jg. 14, 4/2018, S. 52-57.
5 Johann Wolfgang von Goethe: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen…“, in: ders.: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Bd. 1-16], Bd. 2, Berlin 1960 ff., S. 89 f., S. 121 f.
6 s. Barbara Hoos de Jokisch: „Kommentar: Kriterien für die Beurteilung von Gesangsstimmen“, in: dies.: Die geistige Klangvorstellung, Wiesbaden 2015, S. 237 ff.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2021.