Erben, Eva

„Jede Musikstunde soll ein Fest sein“

Gedanken zur Unterrichtsdramaturgie von Frieda Loebenstein

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2021 , Seite 24

Die Intention, jede Unterrichtsstunde als Fest zu gestalten, das alle Betei­ligten freudig erwarten sowie erfüllt und bereichert wieder verlassen, erscheint anspruchsvoll, mitunter nur schwer oder gar nicht einlösbar. Für heutige Ohren mag diese Forderung realitätsfern, bisweilen sogar utopisch klingen. Dennoch sollte sie als übergeordnete Idealvorstellung von Unter­richt nicht aus dem Blickfeld geraten. In ihren Schriften zur Klavierpäda­gogik zeigt Frieda Loebenstein nach wie vor aktuelle Wege auf, wie es gelingen kann, eine inspirierende Atmosphäre zu kreieren, die jede Stunde zu einem besonderen Erlebnis werden lässt.

„Jede Musikstunde soll ein Fest sein für Lehrer und Kinder“, so formuliert es Frieda Loebenstein in der 1928 erschienenen zweiten Auflage der Ausgabe A für Lehrer ihres Lehrwerks Der erste Klavierunterricht.1 Eingebettet ist diese Forderung in den mit „Allgemeines“ überschriebenen ersten Absatz zur „Elementarstufe“, also dem Anfangsunterricht mit Kindern von sieben bis etwa zehn Jahren. Voraus geht diesem Satz ein Passus, den zu kennen sich lohnt: „Das Kind, das den Weg zur ersten Klavierstunde antritt, sieht sich vor den Toren einer Welt, in der alles Singen und Klingen ist. Hier wird es nun eintreten und wie die andern seine Lieder und Stückchen spielen. Alles in ihm ist glückliche Erwartung. Es ist des Musiklehrers heiligste Aufgabe, diese Erwartung zu erfüllen. Jede Musikstunde muß so erwartet werden.“2
Bereits in diesem einleitenden Abschnitt klingt der feierliche Charakter an: Das Kind ist voller Vorfreude, denn es wird aufgenommen in die musizierende Gemeinschaft, in den Kreis derer, die sich schon etwas länger mit dem Klavierspiel beschäftigen. Vielleicht zählt dazu der große Bruder oder die ein Jahr ältere Freundin, deren Klavierspiel das Kind gehört und bewundert hat und denen es nun nacheifern möchte. Es wäre fatal, wenn diese erste Klavierstunde enttäuschend verliefe. Sie muss ein „Fest“ für das Kind werden. Damit die Erst- und alle Folgebegegnungen mit dem Instrument und der Lehrperson positiv verlaufen, dafür hat nach Loebenstein Letztere Sorge zu tragen. Die Lehrkraft ist für den Verlauf und somit für das Gelingen des Festes, mithin des Unterrichts verantwortlich.
Auch welche Art von Fest ihr vorschwebt, beschreibt Frieda Loebenstein in den nachfolgenden Ausführungen: „Eine Feierstunde, zu der sie kommen, in der sie musizieren, spielen und im Musizieren und Spielen in das Wesen der Kunst immer tiefer eindringen. Denn es soll nicht oberflächliches Spiel sein. Wie das Kind die Sprache gelernt hat, wie es erst mit den notwendigsten Worten sich verständlich machen mußte, so soll es die Sprache der Musik ergreifen. Von den einfachsten melodischen, harmonischen, rhythmischen Möglichkeiten geht es aufwärts zum ganzen musikalischen Geschehen. Singend, spielend, eigene Formen erfindend, dringt das Kind mehr und mehr in die Gesetzlichkeiten der Musik ein, bis auch diese Sprache ihm vertraut ist, bis es sich in ihr ausdrücken und sich an den Werken der großen Meister erfreuen kann.“3 In diesem Sinne stellt Ulrich Mahlert hinsichtlich des eingangs zitierten Postulats fest: „Dieser Satz von Frieda Loebenstein, einer herausragenden Reformpädagogin im Bereich des Klavierunterrichts,4 kann als Leitidee wünschenswerter Unterrichtsdramaturgie gelten – nicht nur im Umgang mit Kindern, sondern prinzipiell.“5
In den Fokus rückt somit die Durchführung bzw. der Ablauf einer Unterrichtsstunde, das Hier und Jetzt, in dem Lehrende und Lernende situationsabhängig interagieren. Da jede Unterrichtseinheit unvorhergesehene Momente bereithält und von verschiedenen äußeren Faktoren mitbestimmt wird, ist ihr Ausgang trotz sorgfältiger zeitlicher und inhalt­licher Planung nicht garantiert. Jedes der in der Regel einmal wöchentlich stattfindenden Treffen wird demzufolge zu etwas Einmaligem für alle Beteiligten.
Wie muss nun die Dynamik einer Stunde beschaffen sein, damit sich diese „festliche Stimmung“, die Frieda Loebenstein so überaus wichtig war, einstellt?6 Was also macht eine Unterrichtsstunde zum Fest?
Eine Reihe von Antworten findet sich in den Schriften Loebensteins zur Klavierpädagogik. Die darin enthaltenen Gedanken befassen sich mit Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben, zum Teil sogar äußerst modern und fortschrittlich anmuten. Sie werden im Folgenden auszugsweise zitiert und unter dem Aspekt der Unterrichtsdramaturgie kommentiert.

Methodenrepertoire

„Das Kind will lernen, will üben. Die Klagen der Musiklehrer über Faulheit der Kinder, über die mangelnde Lust zum Üben sind größtenteils auf die Art der Unterrichtsgestaltung zurückzuführen. In diesen Jahren ist das Kind von sich aus nicht faul. Es gilt nur die Kräfte anzuregen, die nach Betätigung drängen.“7

Kinder sind neugierig. In der Regel brennen sie darauf, Dinge auszuprobieren und sich Wissen anzueignen. Lehrende tun gut daran, diese Lernbereitschaft auszunutzen, indem sie mit Hilfe eines breiten Methodenrepertoires einen abwechslungsreichen Unterricht gestalten, der Lernende unmittelbar anspricht, interessiert und begeistert. Vielfältige musikalische Aktionsformen wie singen, (vor)spielen, (zu)hören, in den Noten lesen, improvisieren oder über Musik sprechen tragen zu einer lebendigen Lehrer-Schüler-Interaktion bei, die über die Unterrichtsstunde hinaus ihre Wirkung entfaltet.8

Unterrichtsform

„Der Unterricht ist wesentlich als Arbeits- und Gemeinschaftsunterricht begriffen, soweit sich dies nicht durch die Natur der Sache ausschließt (wie beim Solospiel).“9

„Hieraus ergibt sich notwendigerweise eine Verteilung des Unterrichtsstoffes auf zwei Wochenstunden. Die eine Stunde muß Einzelstunde sein (eine halbe bis ganze Stunde). Hier wird nur pianistisch gearbeitet (Technik, Stücke). Die zweite Stunde soll Gruppenstunde sein. Hier wird das Gehör gebildet, gemeinschaftlich gesungen, es werden Lernspiele gespielt, Musikdiktate gegeben und Improvisationen versucht.“10

Die Unterrichtsform beeinflusst ganz wesentlich den Ablauf einer Musikstunde. Bereits bei der Planung und Vorbereitung müssen Gruppengröße, Alter und Können der Lernenden berücksichtigt werden. Sowohl Einzel- als auch Gruppenunterricht sind nach Frieda Loebenstein unverzichtbar. Jede Schülerin und jeder Schüler sollte deshalb wöchentlich in den Genuss beider Unterrichtsformen kommen. In Anbetracht heutiger Verhältnisse an Musikschulen mit vergleichsweise kurzen Zeiteinheiten für den Einzelunterricht von beispielsweise 30 oder gar nur 22,5 Minuten wöchentlich eine fantastische Vorstellung, die es umzusetzen gilt.

1 Frieda Loebenstein: Der erste Klavierunterricht. Ein Lehrgang zur Erschließung des Musikalischen im Anfangsklavierunterricht. Ausgabe A für Lehrer, Berlin-Lichterfelde 21928, S. 5.
2 ebd.
3 ebd.
4 Eine ausführliche Darstellung von Leben und Wirken Frieda Loebensteins findet sich in Eva Erben: „Den Himmel berühren“. Die Musikpädagogin Frieda Loebenstein (1888-1968), Augsburg 2021.
5 Ulrich Mahlert: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht, Mainz 2011, S. 115.
6 Dass Frieda Loebenstein ein ausgeprägtes Faible für Fest- und Feierstunden jeglicher Art hatte, bestätigt ihre Nichte Annie Loebenstein in ihren Tagebuchaufzeichnungen. Im Eintrag zu Jom Kippur am 25. September 1936 schreibt sie: „Und dass ich nun noch Tante Friedas Leidenschaft in mir entdecke, dieses Bedürfnis nach der festlichen Stimmung!“ (Ich danke Aude Busine, Brüssel, für die Erlaubnis, aus dem Tagebuch ihrer Großmutter zitieren zu dürfen.)
7 Frieda Loebenstein: Klavierpädagogik (Musikpädagogische Bibliothek, hg. von Leo Kestenberg, Heft 13), Leipzig 1932, S. 70.
8 Einen umfangreichen Katalog mit vielfältigen Anregungen zur Erarbeitung und Vertiefung von Musikstü­cken findet man in Barbara Busch/Barbara Metzger: „Methoden im Instrumentalunterricht“, in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, Wiesbaden 2016,
S. 284-287.
9 Loebenstein 1932, S. VII.
10 Loebenstein 21928, S. 6.

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