Richter, Laurids

Adoleszenz als positive Verunsicherung

Chancen des musikalischen Lernens im Jugendalter

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 6/2021 , Seite 60

In der Zeit der Adoleszenz gerät die Beziehung von Jugendlichen und Erwachsenen oft aus dem Gleich­gewicht. Hinter der Irritation der gewachsenen Bindungen steckt die  Forderung, welche die Natur an die jungen Menschen in dieser Lebens­phase richtet: Werde unabhängig von deinem Elternhaus und sei offen für neue Erfahrungen!

Noch vor wenigen Jahren gingen NeurowissenschaftlerInnen davon aus, dass sich die strukturelle Hirnentwicklung im Wesentlichen in der frühen Kindheit vollziehe. Durch bildgebende Verfahren konnte stattdessen gezeigt werden, dass dieser Prozess tatsächlich bis in die Mitte der dritten Lebensdekade hinein andauert. Gerade die Phase der Adoleszenz offenbart sich als ein Fenster signifikanten Wachstums und einer tiefgreifenden Reorganisation des zentralen Nervensystems.1

Notwendiges ­Ungleichgewicht

Aus neurowissenschaftlicher Sicht liegt das Charakteristikum der Adoleszenz in einem ungleichen Wachstum zweier Instanzen des zentralen Nervensystems: dem limbischen System und dem präfrontalen Kortex. Das limbische System verwaltet unsere Emotionen und wirkt in Prozessen der Belohnung, der Motivation und des Lernens. Der präfrontale Kortex ist in alle höheren geistigen Leistungen involviert. Das ungleiche Entwicklungstempo dieser beiden Funktionseinheiten unseres Gehirns erzeugt eine Dysbalance. Vereinfacht gesagt dominiert das limbische System während dieser Zeit den präfrontalen Kortex. Alle exekutiven Leistungen, die Fähigkeit zu Planen und Entscheidungen zu treffen, die Selbstregulation, der Belohnungsaufschub und die Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen etc., sind aufgrund der Reorganisation des präfrontalen Kortex stark eingeschränkt.
Das Belohnungssystem als Teil des limbischen Systems reagiert in dieser Lebensphase besonders stark auf positive und inten­sive Reize, gerade auch auf solche, die mit Risikoerfahrungen verbunden sind.2 Zwar konnte gezeigt werden, dass sich Jugend­liche durchaus über das Risiko ihrer Handlungen im Klaren sind. In konkreten Alltags­situationen und besonders in Gruppen von Gleichaltrigen gewinnt das limbische System jedoch die Oberhand, wodurch die rationale Risikoabwägung in den Hintergrund rückt.3
Die entwicklungsbedingte Dysbalance hat sich im Lauf der Phylogenese bewährt. Neue Beziehungen zu knüpfen und unabhängig von seinem Elternhaus zu werden, erfordert eine erhöhte Risikobereitschaft. Stammesgeschichtlich bedeutete dies nicht nur, den Mut aufzubringen, in unbekannte Gebiete vorzudringen. Es beinhaltete auch die Aufgabe der selbstständigen Nahrungssuche. Ohne eine ausgeprägte Neugier und eine gewisse Lust am Risiko, wäre dies nicht denkbar. Durch die verzögerte Entwicklung des präfrontalen Kortex ist die Risikoabwägung eingeschränkt, zudem werden positive Risikoerfahrungen besonders belohnt.
Die vorübergehend höhere Aktivität des Belohnungssystems hat noch einen weiteren entscheidenden Vorteil: Sie funktioniert nachweislich als Verstärker des Lernens. Im Vergleich zu Kindern und Erwachsenen ist die Aktivität des Belohnungssystems beim Erlernen einer neuen Aufgabe signifikant höher. Die Dominanz des limbischen Systems, die auch als gesteigerte Emotionalität während der frühen und mittleren Adoleszenz wahrgenommen wird, erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich an Ereignisse zu erinnern, und fördert somit langfristige Lernerfolge.4 Sie ist in einer Periode des sozial-affektiven Lernens aber vor allem hilfreich, wenn es darum geht, neue Kontakte zu knüpfen, und sichert letztlich das Überleben der Art.
Während der Adoleszenz gilt das Prinzip „use it or loose it“: Es findet ein radikales Ausdünnen der nicht benötigten synaptischen Verbindungen statt. Der Input und die Aktivitäten in dieser Zeit haben einen erheblichen Einfluss darauf, welche Verbindungen bestehen bleiben. Der sogenannte Prozess der Myelinisierung sorgt schließlich dafür, dass die übrig gebliebenen Verbindungen zwischen den Nervenzellen isoliert werden und effektiver funktionieren. Damit ist die strukturelle Hirnentwicklung der Adoleszenz abgeschlossen. Unter normalen Entwicklungsbedingungen kehrt sich das aus dem Gleichgewicht geratene Kräfteverhältnis von limbischem System und präfrontalem Kortex in der späten Adoleszenz wieder um. Mit anderen Worten: Der Schiedsrichter hat die Kontrolle über das Spiel zurückgewonnen, vor uns steht ein erwachsener Mensch.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die entwicklungsbedingte Dysbalance für das Gelingen der Adoleszenz unverzichtbar ist. Sie erscheint als eine notwendige Irrita­tion auf dem Weg zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Konsequenzen für die Unterrichtspraxis

Die verstärkte Hinwendung junger Menschen zu Peers und die Emanzipation von ihren Elternhäusern sind nötige Entwicklungsaufgaben. Lehrende können gerade in den turbulenten Phasen der Adoleszenz entscheidende Impulse geben und wichtige GesprächspartnerInnen auf Augenhöhe sein. Insofern kommt der Praxis des Musizierens bzw. der Instrumental- und Gesangspädagogik eine besondere Bedeutung zu:
– Die Ensemble- und Bandarbeit öffnet Jugendlichen einen interessanten Aktionsraum. Ihr Gelingen setzt von Seiten der Lehrenden ein ästhetisches Verständnis und ein ehrliches Interesse an der musikalischen Lebenswelt der Jugendlichen voraus. Das gemeinsame Musizieren ist dabei immer auch ein Feld des sozialen Lernens. Aufeinander hören, einander musikalisch tragen, die musikalische Intention des Gegenübers verstehen sind mehr als nur Metaphern des Miteinanders. Die soziale Dimension der Musik ist nicht nur anthropologisch relevant, sondern von hoher Aktualität für die pädagogische Praxis.
– Aufgrund des rapiden und disproportionalen Wachstums kann die Feinmotorik in den entwicklungsintensiven Phasen der Adoleszenz vorübergehend eingeschränkt sein. Gleiches gilt für den Belohnungsaufschub und die Frustrationstoleranz. Es kann in dieser Zeit sinnvoll sein, den Schwerpunkt nicht auf die technische Perfektion, sondern auf die Lernfelder der Improvisation, Interpretation und Komposition zu legen. Emotionale Tiefe, Offenheit für Neues und grundlegende Fragen nach der eigenen Identität als Merkmale der Adoleszenz scheinen dies geradezu herauszufordern. Musikalische Bedeutung geht über den Begriff der Audiation bei Edwin Gordon hinaus. Cross-modale Korrespondenzbeziehungen, die während der frühen Kindheit erlernt werden, z. B. das Verhältnis von Größe und Resonanzfrequenz eines Körpers oder der Zusammenhang von Stimm­intensität, Gesichtsausdruck und affektivem Zustand, bilden die Grundlage einer musikalischen Semantik jenseits rein musiksyntaktischer Beziehungen.5
– Musik ist seit jeher in besonderer Weise anschlussfähig für die Emotionalität der Jugend. Einen interessanten Impuls für das bessere Verständnis der Relevanz der Musik in dieser Lebensphase gibt das Forschungsfeld der emotionalen Immersion; emotional immersiv ist ein musikalisches Hörerlebnis dann, wenn es einen emotionalen Zustand verlängert oder intensiviert und das Gefühl des Eintauchens in die Musik vermittelt. Wenn Jugendliche Musik hören, die sie in einer bestimmten Situation bevorzugen, kann sich dies emotionsregulierend auswirken.6 Zwar kann Musik auch einen gegenteiligen Effekt haben und negative Stimmungen verstärken, insbesondere bei Menschen, die zu Depressionen neigen. Gezielt eingesetzt ist Musik im therapeutischen Kontext jedoch in der Lage, Kreisläufe negativer Emotionen zu durchbrechen. Die positiven Effekte emotionaler Immersion verweisen auf das enorme Potenzial instrumental- und gesangspädagogischer Arbeit.7 Musik kann die fehlende emotionsregulierende Funktion des präfrontalen Kortex ausgleichen. In ihrer Bedeutung für die Pubertät und das Jugendalter ist sie einmalig.

Entwicklungschance (auch) für Erwachsene

Die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein stellt die Beziehungen von Eltern und Jugendlichen auf die Probe. Sie konfrontiert die Erwachsenen mit den eigenen Adoleszenzerfahrungen und Identitätskonflikten: Die existenzielle Abhängigkeit von Bezugspersonen der frühen Kindheit verliert an Bedeutung und Jugendliche hinterfragen die primäre Orientierung an den Werten des Elternhauses. Wenn es Eltern und Jugendlichen gelingt, ihre Beziehungen neu zu verhandeln, wird die Adoleszenz zu einem Ereignis positiver Verunsicherung für alle Beteiligten.
Die Bemerkung, die Pubertät sei die Phase, in der die Eltern anfingen, schwierig zu werden, trifft jenseits der beabsichtigten Ironie einen wichtigen Punkt. Ein großer Teil der Entwicklungsaufgaben der frühen und mittleren Adoleszenz scheint bei den Erwachsenen selbst zu liegen. Dies kann herausfordernd und schön zugleich sein.

1 B. J. Casey/Rebecca M. Jones/Todd A. Hare: „The adolescent brain“, in: Annals of the New York Academy of Sciences 2008, Volume 1124, S. 111-126.
2 Adriana Galvan et al.: „Earlier development of the accumbens relative to orbitofrontal cortex might underlie risk-taking behavior in adolescents“, in: The Journal of Neuroscience 26(25)/2006, S. 6885-6892.
3 Margo Gardner/Laurence Steinberg: „Peer influence on risk taking, risk preference, and risky decision making in adolescence and adulthood: an experimental study“, in: Developmental Psychology 4/2005, S. 625-635.
4 Juliet Y. Davidow et al.: „An upside to reward sensitivity: the hippocampus supports enhanced reinforcement learning in adolescence“, in: Neuron 92/2016, S. 93-99.
5 Laurids Richter: Musikalischer Rhythmus und semantisches Priming. Konsequenzen für den Begriff der Audiation, Qucosa 2018, https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-324513 (Stand: 24.8.2021)
6 Genevieve Dingle/Leah Sharman/Joel Larwood: „Young people’s uses of music for emotional immersion“, in: Katarina McFerran/Philippa Derrington/Suvi Saarikallio (Hg.): Handbook of music, adolescents and Wellbeing, Oxford 2019, S. 25-37.
7 Suvi Saarikallio/Jaakko Erkkilä: „The role of music in adolescents’ mood regulation“, in: Psychology of Music 35/2007, S. 88-109.

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