Rieder, Vivien

Macht musizieren resilient?

Wichtige Einblicke in die musikbezogene Resilienzforschung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 16

Resilienz, die Fähigkeit zur sozialen und emotionalen Bewältigung von Alltagsanforderungen und Krisen, ist einer der wichtigsten Schutzfaktoren zur Stärkung der mentalen Gesundheit. Nicht erst durch die Corona-Krise und die dadurch entstandenen vielfältigen Stressfaktoren hat sich gezeigt, dass diese in allen Altersgruppen zu schützen ist.

Eine aktuelle, internationale Studie des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik1 hebt die Rolle des aktiven Musizierens sowie des Musikhörens im Umgang mit dem Lockdown hervor. Auch die beiden hier vorgestellten Untersuchungen gehen auf die Zusammenhänge zwischen Musik und Resilienz ein und beantworten dabei wichtige Fragen: Stärkt Musizieren die sozialen, familiären und personalen Ressourcen von Jugendlichen und wenn ja, inwiefern? Und wie gingen und gehen erfolgreiche KünstlerInnen mit Lebenskrisen um?
Mit der ersten Frage beschäftigt sich Nele Groß in ihrer Dissertation vor dem Hintergrund einer Nachfolgeuntersuchung der Studie „Wirkungen und langfristige Effekte musikalischer Angebote“ (WilmA),2 die Teil der Begleitforschung zum Programm Jedem Kind ein Instrument (JeKi) in Nordrhein-Westfalen und Hamburg ist. Durch JeKi erhalten Grundschulkinder ergänzenden Musikunterricht, der hauptsächlich durch aktives Musizieren geprägt ist. Das ermöglicht die empirische Untersuchung von Effekten des Musizierunterrichts in großen Stichproben und über lange Zeiträume hinweg. Die Veröffentlichung beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern sich die individuellen Ressourcen von aktiv musizierenden Jugendlichen – unabhängig davon, ob sie mit ihrem Instrument im JeKi-Programm oder außerhalb davon begonnen haben – von den Ressourcen jener unterscheiden, die kein Instrument erlernen.
In der bisherigen Forschung wurden Transfereffekte des Musizierens auf soziale Fähigkeiten und Verhaltensweisen gefunden, die für eine erhöhte Widerstandsfähigkeit sowie eine veränderte Belastungswahrnehmung sprechen.3 Gerade vor dem Hintergrund der sogenannten „neuen Morbidität“, also dem vermehrten Auftreten psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter, ist dieser Forschungsgegenstand von großem gesamtgesellschaftlichen Interesse. Die in der Publikation beschriebenen Forschungsergebnisse weisen auf Transfereffekte des Musizierens im sozialen Bereich hin. Sie heben somit die Relevanz musikalisch-künstlerischer Fächer hervor, die in bildungspolitischen Diskussionen häufig in Frage gestellt wird, so zuletzt auch im Kontext der Corona-Pandemie.
Die Grobeinteilung in einen theoretischen und einen empirischen Teil wird ergänzt durch Einleitung und Fazit. Zunächst werden relevante Begriffe der psychischen Gesundheit definiert und erläutert. Anschließend werden theoretische Ansätze zum Erhalt von Gesundheit beschrieben, wobei Gesundheit im Sinne der Definition durch die World Health Organization (WHO) über die Abwesenheit von Krankheit hinausgeht. Resilienzfördernde Ressourcen, aufgegliedert in soziale, familiäre und personale, werden nachfolgend ebenso erläutert wie psychosomatische Beschwerden. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung bisheriger Studien zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen. Es folgen Modelle zu Resilienz und Ausführungen zur Lebensrealität im Jugendalter. In den daraus hergeleiteten Hypothesen wird postuliert, dass sich das aktive Musizieren positiv auf soziale, familiäre und personale Ressourcen auswirkt. Außerdem wird von einer Steigerung der Resilienz ausgegangen, sodass weniger psychosomatische Beschwerden auftreten.
Der zweite Teil der Publikation ist geprägt von der Beschreibung der empirischen Untersuchung inklusive der statistischen Methoden und Ergebnisse. Es folgen die inhaltliche Diskussion der Ergebnisse und ein Fazit mit Ausblick auf die zukünftige Forschung sowie die Unterrichtspraxis, die die komplexen Darstellungen der Strukturgleichungsmodelle zur Hypothesentestung und der zugehörigen Ergebnisse inhaltlich einordnen und die Arbeit somit abrunden. Zum Ende wird die Titelfrage „Macht musizieren resilient?“ anhand der Untersuchungsergebnisse verneint, da lediglich die sozialen Ressourcen bei musizierenden Jugendlichen signifikant stärker ausgeprägt waren. Dennoch hält die Autorin ein deutliches Plädoyer für die weitere Integ­ration von Programmen wie JeKi in das Bildungssystem. Auch wenn personale und familiäre Ressourcen bei Musizierenden in der Untersuchung nicht substanziell stärker und teilweise sogar schwächer ausfielen, sind positive Effekte des Musizierens dennoch anzunehmen. Schließlich sind auch die methodischen Einschränkungen einer Querschnittstudie zu beachten, die keine Kausalschlüsse zulassen.
Insgesamt stellt die Veröffentlichung einige für Forschung und Praxis relevante Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Musizieren und Resilienz zusammen. Sie folgt dem Stil einer empirisch-wissenschaftlichen Arbeit und beinhaltet daher neben den inhaltlichen Ausführungen eine Vielzahl forschungsmethodischer Erläuterungen, die eine gewisse statistische Grundbildung zum Verständnis voraussetzen. Es ist durch die von der Autorin vorgenommene Einordnung und Interpretation allerdings auch ohne detaillierte methodische Kenntnisse möglich, die Theorien und Erkenntnisse nachzuvollziehen.
Mit der Frage nach dem Umgang erfolgreicher KünstlerInnen mit Lebenskrisen beschäftigt sich Denis Patkovic in seiner Abhandlung. Sein forschungsmethodisches Vorgehen unterscheidet sich von dem zuvor beschriebenen, da er sich der Thematik auf hermeneutische und qualitative Weise nähert. Patkovic zielt darauf ab, gemeinsame Persönlichkeitsmerkmale und Handlungsweisen der untersuchten KünstlerInnen zu extrahieren, die ­ihrer von ihm angenommenen Resilienz zugrunde liegen könnten. Resilienzfördernde Merkmale wie Optimismus, Selbstachtung und stabile soziale Bindungen wurden bereits in der Vergangenheit von verschiedenen AutorInnen zusammengestellt.4 In der Publikation werden diese verknüpft mit den spezifischen Lebenswegen von KünstlerInnen, die Krisen durchlebt haben. Ziel ist der Versuch, eine Art Erfolgsrezept für das Meistern von Krisensituationen zu formulieren.
Auch diese Veröffentlichung ist in zwei größere Abschnitte geteilt. Nach der theoretischen Herleitung zur Heranführung an den Begriff der Resilienz werden zunächst drei Künstlerpersönlichkeiten in zufällig wirkender Reihenfolge anhand biografischer Analysen vorgestellt: Glenn Gould, Ludwig van Beethoven und Wladimir Horowitz. Der Autor beschreibt jeweils den Werdegang, der anschließend hinsichtlich schwieriger Lebensphasen und Resilienzfaktoren untersucht wird. So wird bei Glenn Gould ausführlich sein extravagantes Verhalten charakterisiert, das anschließend auf Hypochondrie sowie Drogensucht zurückgeführt wird. Diesen begegnete Gould unter anderem mit Hilfe seiner Kreativität und Zielstrebigkeit. Beethovens Verhalten wird mit paranoiden Ängsten und Alkoholmissbrauch beschrieben, womit er mit Hilfe von Intelligenz, klaren Zielen und Disziplin umgehen konnte. Horowitz hatte unter anderem mit Depressionen und Hysterie zu kämpfen, ihm scheinen aber vor allem soziale Bindungen geholfen zu haben.
Der zweite Teil befasst sich mit der Resilienz zeitgenössischer KünstlerInnen, wozu das qualitative Interview als Vorgehensweise gewählt wurde. Das für die drei Persönlichkeiten Stefan Hussong, Ioanna Avraam und Wolfgang Dimetrik identische Leitfadeninterview beinhaltet unter anderem Fragen zu Lampenfieber und zum Umgang mit suboptimalen Rahmenbedingungen in Konzertsituationen. Im Anschluss werden die Erkenntnisse aus den Interviews kurz zusammengefasst, um schließlich zu einem allgemeinen Fazit und Ausblick überzuleiten. Dabei wird ein Modell zur Entstehung von Resilienz aus einer Krise heraus aufgestellt, bevor Ansätze zur musikpädagogischen Integration der Resilienzförderung an Musik(hoch)schulen vorgestellt werden.
Die Publikation bietet einen interessanten Einblick in herausragende Lebensläufe historischer und zeitgenössischer künstlerisch tätiger Persönlichkeiten. Personenübergreifende Aussagen über die Entwicklung von Resilienz sind mit der gewählten, nur spärlich beschriebenen Methodik allerdings kaum zu treffen. Die Auswahl der KünstlerInnen erfolgte subjektiv, sodass lediglich von anekdotischer Evidenz zum Umgang mit Lebenskrisen die Rede sein kann. Ein Erfolgsrezept für den Umgang mit Krisenerfahrungen behauptet auch der Autor nicht gefunden zu haben. Die Arbeit zeigt aber die Relevanz der verstärkten Einbindung der Förderung psychischer Gesundheit in die Musik(hoch)schul­didaktik.
Über beide Publikationen lässt sich zusammenfassend sagen, dass sie auf sehr unterschiedliche Weise wichtige Einblicke in die musikbezogene Resilienzforschung geben. Während Groß sich mit den resilienzfördernden Transfereffekten des Musizierens im Jugendalter beschäftigt, stehen für Patkovic Persönlichkeitsfaktoren und Handlungsweisen außerhalb des Musizierens im Kontext der Ausbildung und Tätigkeit als KünstlerIn im Vordergrund.

1 Fink, Lauren/Warrenburg, Lindsay/Howlin, Claire/ Randall, William M./Hansen, Niels Chr./Wald-Fuhrmann, Melanie: „Viral tunes: Changes in musical behaviours and interest in coronamusic predict socio-emotional coping during COVID-19 lockdown“, in: Humanities and Social Sciences Communications, 8. Jg., 2021, Heft 1, Art. Nr. 180.
2 Lehmann-Wermser, Andreas/Schwippert, Knut/ Busch, Veronika (Hg.): Mit Musik durch die Schulzeit? Chancen des Schulprogramms JeKi – Jedem Kind ein ­Instrument, Münster 2019.
3 Langer, Rebecca/Stern, Alexander/Schroeder, Sascha: „Transfereffekte Kultureller Bildung auf die Persönlichkeit: Forschungsstand und -desiderate“, in: Pürgstaller, Esther/Konietzko, Sebastian/Neuber, Nils (Hg.): Kulturelle Bildungsforschung. Bildung und Sport, Wiesbaden 2020; Gembris, Heiner: Transfer-Effekte und Wirkungen musikalischer Aktivitäten auf ausgewählte Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, Gütersloh 2015.
4 Fröhlich-Gildhoff, Klaus/Rönnau-Böse, Maike: Resilienz, München 52019; Mourlane, Denis: Resilienz – Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen, Göttingen 82014.

Nele Groß: Macht musizieren resilient? Untersuchung von sozialen, familiären und personalen Ressourcen für die psychische Gesundheit von Jugendlichen, Waxmann, Münster 2018, 265 Seiten, 34,90 Euro

Denis Patkovic: Resilienz in der Musik. Erörterungen zu den Fähigkeiten von Künstlern, mit Krisen im Leben umzugehen, Unigrafia, Helsinki 2018, 138 Seiten, PDF: https://taju.uniarts.fi/bitstream/handle/10024/6712/Denis_Patkovic_sisus_1411_B.pdf?sequence=1

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