© Daisy Daisy_www.stock.adobe.com

Pempel, Nora / Britta Renes

Eine Frage der Haltung!

Der Landes­verband der Musikschulen in NRW möchte Rassismus aktiv entgegenwirken

Rubrik: Musikschule
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 36

Rassismus als Form der Machtausübung ist Teil der deutschen Gesellschaft und Teil von Strukturen und Institutionen. Trotz des wachsenden Bewusstseins für diese Problemlage sind auch Musikschulen, wie alle Bildungsräume, noch keine rassismusfreien Orte. Wie der Landes­verband der Musikschulen in NRW mit seiner Arbeit dazu beitragen möchte, das Gespräch über Rassismus in unserer Gesellschaft zu führen und Lösungs­ansätze dafür zu finden, diesem aktiv entgegenzuwirken, steht im Zentrum dieses Beitrags.

Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist ein sehr persönlicher und schwieriger Prozess. Es können Widerstände und Zweifel, aber auch Ängste und Trauer hochkommen. Ob und wie intensiv Menschen sich mit Rassismus befassen, kann von vielen selbst bestimmt werden: Das Buch zum Thema kann jederzeit zur Seite gelegt, der Pausebutton des Info-Podcasts gedrückt und der Laptop zugeklappt werden. Somit besteht eine freie Wahl darüber, das aktive Lernen über Rassismus zu unterbrechen und sich anstelle dessen anderen, „angenehmeren“ Themen zu widmen. Diese Möglichkeiten haben jedoch nur Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind. Die Verantwortung, die damit verbunden ist, muss im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert werden.
Rassismus ist allgegenwärtig und für viele Menschen gefährdender Teil des privaten und beruflichen Alltags. Der Begriff beschreibt die Diskriminierung aufgrund von tatsächlichen oder vermeintlichen körperlichen oder kulturellen Merkmalen wie Hautfarbe, Herkunft, Sprache oder Reli­gion. Der Begriff „Rasse“ ist dabei ausschließlich ein soziales Konstrukt, denn die Einteilung von Menschen in Rassen hat keine biologische oder wissenschaftliche Grundlage.
Rassismus ist nicht nur ein Problem extremer politischer Gruppierungen und Parteien. Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung kann sich nicht aussuchen, ob er sich mit Rassismus befassen möchte, er wird ständig – auch auf interpersoneller und individueller Ebene – damit konfrontiert und somit diskriminiert, verletzt und auf bestimmte Merkmale reduziert. Rassismus ist eine Form der Machtausübung, die nicht nur im Kontext von Flucht und Migration besteht; sie ist Teil der deutschen Gesellschaft und Teil von Strukturen und Institutionen. Trotz des wachsenden Bewusstseins für diese Problemlage sind Musikschulen noch keine rassismusfreien Orte. Daher möchte der Landesverband der Musikschulen in NRW mit seiner Arbeit dazu beitragen, das Gespräch über Rassismus zu führen und Lösungsansätze dafür zu finden, diesem aktiv entgegenzuwirken.

Arbeitsbereich „Diversität“

Im Kontext der „Musikschuloffensive“ haben das Kulturministerium und die kommunalen Spitzenverbände in NRW mit Beratung durch den Landesverband der Musikschulen in NRW (LVdM NRW) gemeinsam einen öffentlich-rechtlichen Zuwendungsvertrag entwickelt, der öffentliche Musikschulen mit weiteren finanziellen Ressourcen für mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausstattet und die Zukunftsentwicklung durch thematische Impulse unterstützt. Für die fachliche und strukturelle Begleitung der Musikschulen konnte der LVdM NRW – finanziert durch das Land NRW – fünf Stellen mit ReferentInnen besetzen, die die öffentlichen Musikschulen zu den „Themen der Zukunft“ beraten, Weiterbildungsangebote konzipieren und die Belange der öffentlichen Musikschulen in relevanten kulturpolitischen und bildungspolitischen Gremien einfließen lassen.
Diversität ist eines dieser Zukunftsfelder. Das Ziel des Verbandes im Arbeitsbereich Diversität ist es, Bildungsbenachteiligung an den Musikschulen abzubauen und die diskriminierungssensible Öffnung der Musikschulen zu fördern. In der Musikschule als Bildungsraum spiegeln sich unterschiedliche Lebensrealitäten und Erfahrungen wider. Kinder, Jugendliche und Erwachsene bringen unterschiedliche (materielle, kulturelle, soziale) Ressourcen und Bedarfe mit, die in der unterrichtlichen Praxis, aber auch strukturell berücksichtigt werden müssen. Gesprächsformate oder Super­visionen im Team oder Kollegium der Musikschule sind sinnvoll, um Barrieren wahrzunehmen und zu reduzieren und um Macht- und Diskriminierungsverhältnisse an Musikschulen kritisch zu beleuchten. Dafür bietet der Landesverband den Musikschulen Beratungen, Fachaustausche, Netzwerktreffen und Workshops an. Die Geschäftsstelle des Verbandes reagiert auf die aktuellen Entwicklungen, unter anderem indem sich dessen Team während einer zweitägigen Fortbildung den Grund­lagen des Anti-Bias-Ansatzes nähert mit dem Ziel, Vorurteile, unbewusste Denkmuster und stereotype Zuschreibungen zu überwinden.

Weiterentwicklung des Arbeitsbereichs „Kulturelle Vielfalt“

Seit vielen Jahren widmet sich der LVdM NRW schwerpunktmäßig dem Bereich der „Kulturellen Vielfalt“. Der Weg für eine stetig wachsende inklusive Entwicklung der Musikschulen und ein intensiviertes Diversitätsbewusstsein wurde bereits mit dem Wettbewerb Global Music NRW1 und dem Landesprojekt MüzikNRW2 bereitet. 2016 wurde das landesgeförderte Projekt Heimat:Musik ins Leben gerufen, um Geflüchteten eine Teilhabemöglichkeit an den musikalischen Angeboten der öffentlichen Musikschulen zu ermöglichen. Auf der Basis einer unbürokratischen Antragsstruktur entstanden so zahlreiche Projekte in unterschiedlicher Form, beispielsweise Erstunterricht in Kleingruppen, Eltern-Kind-Gruppen und Ensemble- und Chorangebote.
Vor allem die Kooperationen mit allgemeinbildenden Schulen, Spracheinrichtungen, Jugendzentren etc. waren in der Projektarbeit ein wichtiger Faktor. Begleitend zum Projektbeginn lag ein Fokus auf den Schulungen der Musikschulkollegien. In „Interkulturellen Trainings“ wurden in einer Ganztagsschulung verschiedene Schwerpunkte gesetzt: ein selbstreflektierender pädagogisch-theoretischer Teil, um sich intensiv mit den Themen Kommunikation, Elternarbeit, Flucht und Migration auseinanderzusetzen, und das praktische Musizieren, unter anderem um orientalische Spielweisen auf den eigenen Instrumenten zu adaptieren. Mit Hilfe der genannten Fortbildungsinhalte konnten sich die Kollegien eine eigene Haltung erarbeiten. Im Laufe der Jahre wurden sowohl die Inhalte der Fortbildungen als auch des gesamten Projekts immer wieder angepasst und weiterentwickelt. So war es im vergangenen Jahr folgerichtig, die Projektförderung an den Musikschulen nicht mehr nur an Geflüchtete, sondern ebenso an Menschen mit Einwanderungs- und internationaler Geschichte zu richten.

Heimat:Musik 2022

Durch die verbandsinterne Auseinandersetzung mit Antidiskriminierung, Diversität und Rassismuskritik wurde auch das Projekt Heimat:Musik kritisch reflektiert. Das Projekt wurde intensiv befragt, um eventuelle Unstimmigkeiten in der Inten­tion der Formate, der Repräsentation der beteiligten Gruppen und der Inhalte der Angebote zu identifizieren. Dieser organische Prozess war im Zuge der Sensibilisierung für Antidiskriminierungsarbeit logisch und sehr aufschlussreich und zeigte, dass es in der Projektarbeit im Bereich Interkultur zu Schieflagen und Spannungsfeldern kommen kann, wenn die oben genannten Parameter nicht kritisch analysiert werden. In der Weiterentwicklung befasst sich Heimat:Musik infolgedessen neben den konkreten musikalischen Angeboten an den Musikschulen intensiv mit den Themen „kulturelles Othering“ und „kritisches Weißsein“.
„Othering“ zieht eine Grenze zwischen „Wir“ und „den Anderen“ und wird häufig innerhalb eines Machtgefälles verwendet, um eine eigene Gruppenidentität zu bilden, diese als positiv aufzuwerten und als Norm zu bestätigen. Durch „Othering“ wird ein (westliches) Wir und ein (nicht westliches) Fremdes konstruiert. Im Kontext von Musikschulen kann dies passieren, wenn Angebote für Zielgruppen konzipiert werden, ohne mit diesen ins Gespräch zu kommen. In diesem Fall werden Bedarfe und Wünsche zugeschrieben.
Mit „kritischem Weißsein“ ist gemeint, dass die mit weißer Hautfarbe verbundenen gesellschaftlichen Privilegien nicht als selbstverständlich verstanden werden, sondern die Notwendigkeit erkannt wird, sich mit deprivilegierten Gruppen zu solidarisieren und sogar Ressourcen umzuverteilen. Im Sinne des „Powersharing“ ist das zum Beispiel auch die Bereitstellung von Ressourcen wie Geld, Räume, fachliche und personelle Unterstützung und die Einbindung von diversen Perspektiven in Arbeitsstrukturen- und Inhalte.
Im Zuge dieses Selbstreflexionsprozesses und dieses erweiterten Blickwinkels nach innen auf die Musikschulen als Organisationen ist weiterhin ein wichtiges Ziel des Projekts die Sensibilisierung der Musikschulkollegien und des Verbands im Hinblick auf Rassismuskritik, Diversitätsbewusstsein und vorurteilsreflektierter Pädagogik mit Hilfe eines intersektionalen Ansatzes, der die Wechselwirkungen und Überschneidungen mehrerer Diskriminierungsformen analysiert. Dies geschieht wie bisher durch Fortbildungen, deren Inhalte aufgrund eines breit angelegten Verständnisses auch Ungleichbehandlungen im Hinblick auf Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter und Religion mit abbilden.

Fortbildungen als ­Präventivmaßnahmen

Im November 2021 startete der LVdM NRW die digitale Diversitätsworkshop-Reihe „Mindset Vielfalt“. Das Format soll interessierte Lehr- und Leitungskräfte gezielt für verschiedene Barrierefreiheitsbedarfe und Diskriminierungsrisiken sensibilisieren, neue gesellschaftliche Diskurse aufzeigen und den Transfer der „Vielfalts-Aspekte“ in den Musikschulalltag fördern. Neben Perspektiven wie „Musik im Alter“, „Digitale MusikApps in inklusiven Ensemb­les“ und „Genderreflektierte Pädagogik und Geschlechtliche Vielfalt“ fand auch ein Workshop zum Thema „Rassismuskritik und Diversitätsbewusstsein in der Musikschule – eine Frage der Haltung?“ statt.
Die Leitung des zweiteiligen Workshops lag bei Canan Tekin, Trainerin für rassismuskritische Bildungsarbeit, und Sima Vortkamp, Leitung der Empowerment Akademie des Kölner Vereins Coach e. V. Der Einstieg in die Thematik gelang über die Sensibilisierung für verschiedene Diskriminierungsformen. Diskutiert wurde darüber, wie ein Bewusstsein für das Thema in die eigene pädagogische Haltung an der Musikschule übertragen werden kann. Die Teilnehmenden näherten sich dem Diskurs außerdem über den Aspekt „Macht von Sprache“ und über die Klärung wichtiger Begriffe und Selbstbezeichnungen, wie etwa „BiPoC“. Tekin lud dazu ein, „sich mit dem natürlichen Wandel der Sprache auseinanderzusetzen, ohne in ständiger Sorge und Unsicherheit sein zu müssen, Begriffe falsch zu verwenden. Nahezu niemand spricht eine perfekte, diskriminierungsfreie Sprache.“ „Ein Schritt, sich diesem Ideal anzunähern, ist es“, so die Referentinnen, „sich mit der Geschichte problematischer Begriffe auseinanderzusetzen und nach sprachlichen Alternativen zu suchen. Eine positive Fehlerkultur und die Bereitschaft, sich kritisch über Begriffe auszutauschen, ist wesentlicher Teil einer machtkritischen Haltung.“
Die Teilnehmenden bekamen darüber hinaus wichtige Impulse zur Entstehungs­geschichte des Konstrukts „Rasse“ zur Zeit des Kolonialismus und sprachen über den Nutzen, den die „westliche Welt“ davon hatte, die weiße Gesellschaft als überlegen zu konstruieren. Anschließend wurden die Handlungsspielräume der Teilnehmenden konkret in der Musikschule fokussiert. Durch Konzepte wie „Powersharing“ und „Allyship“ (das Verbünden mit deprivilegierten Gruppen) wurden Wege aufgezeigt, wie sich Personen, die nicht von Rassismus betroffen sind und von Ungleichheit profitieren, unterstützend verhalten können.
„Es gibt kein Rezept, um Rassismus zu bekämpfen“, so die Trainerinnen, „aber durch die aktive Suche nach Diskriminierung im persönlichen und beruflichen Umfeld, das Zeigen von Haltung bei rassistischen Äußerungen und Situationen, das Zuhören, die persönliche Weiterbildung und das Sprechen mit dem eigenen Umfeld über Ungleichverhältnisse können wichtige Schritte gemacht werden“ – auch in öffentlichen Musikschulen.

„Ein Muskel, den wir als Gesellschaft trainieren müssen“

Institutionen der kulturellen Bildung haben wie alle anderen Institutionen auch die Pflicht, sich dem Thema Diversität und Antidiskriminierung zu widmen. Die Auseinandersetzung der öffentlichen Musikschulen mit Diskriminierungsrisiken und auch Rassismus spricht für die qualitative Umsetzung des kommunalen Auftrags, eine „Musikschule für alle“ zu sein. Musikschularbeit ist geprägt von Beziehungsarbeit und Gruppendynamiken. Lehr- und Leitungskräfte, SchülerInnen und alle weiteren an Musikschularbeit beteiligten Personen haben die Chance, durch die eigene Haltung konsequent ein wertschätzendes und friedvolles Miteinander zu implementieren. Ein Gespür oder die Infragestellung eigener Privilegien (oder Deprivilegien) ist die Grundlage für diese rassismus- und machtkritische Haltung. Die Erarbeitung einer sowohl persönlichen als auch gemeinsamen Haltung ist ein andauernder Prozess, bei dem die permanente Wahrnehmung und Reflexion des eigenen und kollektiven Handels und der eigenen Einbindung in Diskriminierung die Basis ist. Die Autorin und Antirassismus-Trainerin Tupoka Ogette formuliert es wie folgt: „Sprechen lernen über Rassismus ist wie ein Muskel, den wir als Gesellschaft trainieren müssen.“3

1 www.globalmusicnrw.de
2 www.müziknrw.de
3 www.tupoka.de

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2022.