Henning, Heike (Hg.)

Chorpraxis

Studien zum Chorsingen und Chorleiten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2021
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 58

Welch herber Verzicht war den ChorsängerInnen in den vergangenen Jahren auferlegt, die auch durch digitale Hilfen nur in Einzelfällen notdürftig kompensiert werden konnten. Denn Chorsingen – das ist die zentrale Quintessenz dieser Veröffentlichung – nimmt in der individuellen Lebensplanung vieler Menschen eine bedeutsame Rolle ein.
Gleich in der ersten Studie wird dieser Aspekt basal anthropologisch fixiert und durch eingehende wissenschaftliche Studien begründet. So kann regelmäßiges Singen im Chor nach neueren Studien in Verbindung mit drei Grundbedürfnissen des Menschen gebracht werden: Kompetenzerleben, Autonomieerleben, soziales Eingebundensein. Chorarbeit leistet über die ästhetische Praxis hinaus wertvolle Unterstützung zu einem erfüllten Dasein und gelingender Resilienz. Welche Aktualität angesichts der sich verschärfenden globalen Bedrohung!
Dies hat zahlreiche Konsequenzen im didaktischen Prozess im Einzelnen und im gesamten Bildungsbereich einer sich human verstehenden demokratischen Gesellschaft. Da gilt es, sich Gedanken über altersspezifische Differenzen zu machen und die kulturelle Vielfalt zu berücksichtigen; Stilfragen von Klassik, historisch informierter Aufführungspraxis bis zu authentischem Umgang mit aktuellen Ausdrucksmitteln der Popmusik wahrzunehmen. Die hier gesammelten Studien widmen sich in zentralen Aufrissen folgenden Aspekten:
– aktuelle Forschungsergebnisse zu den Bereichen Chorsingen und Chorleiten,
– Ausbildungsmöglichkeiten an Hochschulen und Universitäten,
– Erwachsene und Jugendliche in Bezug auf das Chorsingen,
– Singen im Bereich primärer Sozialisation, also im Alltag und be­sonders in der Familie,
– spezielle Betrachtung der Situation in kirchlich gebundenen Chören,
– Motivation älterer Menschen, an altershomogenen „Rockchören“ teilzunehmen – ein bisher so gut wie gar nicht betrachteter Aspekt –,
– Überblick über Ausbildungsstand, Herkunft und Kompetenzen von ChorleiterInnen;
– schließlich folgt ein Statusbericht zur allgemeinen wissenschaftlichen Situation durch eine Darstellung des Zentrums für chorpädagogische Forschung in Innsbruck.
Sicherlich hat das Thema noch viele weitere Aspekte, aber in den hier vorgestellten Überlegungen finden sich hochinformative ­Erkenntnisse und Belege zur ­gegenwärtigen Chorlandschaft. Nicht zuletzt weist das Vorwort von Andreas Mohr, der sich zeitlebens für das qualitativ und stimmphysiologisch richtige Singen mit Kindern eingesetzt hat, auf einen wichtigen Umstand hin, der all die hier angesprochenen Überlegungen erst möglich macht: Im primären pädagogischen Bereich, also in Kita und Grundschule, fehlt es nach wie vor an kompetenten PädagogInnen, um die Grundlagen zu einer Singmotivation zu legen, die dann hoffentlich ein ganzes Leben lang trägt.
Thomas Holland-Moritz