Puhani, Andreas

Jenseits vom Tonhöhenquiz

Gedanken zu einer Gehörbildung der Zukunft

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 18

Gehörbildung, Hörerziehung, Hörschulung –gleich wie man das Fach nennt, in der Bezeichnung steckt schon das Ziel: Das Gehör soll sich verbessern. Meist aber dreht sich alles nur um eines: um die Identifikation von Tonhöhen – oft unabhängig von Hörstrategie oder Musikverständnis.

Wenn es um Gehörbildung geht, egal ob an Hochschulen, Musikschulen oder anderswo, dann geht es allem Anschein nach vor allem darum, im richtigen Moment die richtigen ­Töne zu singen, zu spielen oder zu notieren. Gewissermaßen wird ein Tonhöhenquiz veranstaltet, die Kandidatinnen und Kandidaten agieren unter Zeitdruck, auch unter Konkurrenzdruck. Nennen wir diese meist uneingestandene Prämisse das „Quizparadigma“. Es prägt das Fach und erzeugt oft mehr Stress als Lust am Lernen.1 Damit kein falscher Eindruck entsteht: In diesem Beitrag soll keinesfalls eine Absage an sportlichen Ehrgeiz ausgesprochen werden. Meistens aber wird das Gehör bei Aufgaben, in denen es unabhängig vom Lösungsweg einzig um die richtige Lösung geht, nicht unbedingt gebildet, sondern lediglich getestet. Ob man bei solchen Hörtests auch etwas lernt, was man dabei lernt und woran es liegt, falls dies nicht der Fall ist, bleibt oft im Unklaren. Tonhöhen zu erkennen ist und bleibt gewiss ein wichtiger Aspekt der Gehörbildung, sollte aber eher als Methode verstanden werden, nicht so sehr als Lernziel. Dieses aber, die Schulung des musikalischen Gehörs, liegt jenseits vom Tonhöhenquiz.
Dies klingt zunächst vielleicht etwas altmodisch angesichts einer Zukunft, die längst Gegenwart ist, geprägt von Künstlicher Intelligenz und Digitalität, nicht erst seit Corona. Fast nostalgisch berührt es uns heute, wie Clemens Kühn in seiner Gehörbildung im Selbststudium vor etwa 40 Jahren Übungen entwirft, „die Selbstbetrug ausschließen und Eigenkontrolle gewährleisten“,2 und dabei von einer Situation im Studierzimmer mit Buch, Klavier und Notenheft ausgehen muss. Heute stehen allen, die es wünschen, zahl­reiche, auch kostenlose oder zumindest kostengünstige Apps und Websites zur Verfügung. Die Voraussetzungen haben sich also verbessert, das Grundproblem aber ist geblieben: das Quizparadigma. Gerade Apps beschränken sich oft auf Aufgabenstellung und Auswertung der Antwort.3 Damit das Gehör sich aber entwickelt und nicht einfach nur getestet wird, bedarf es der Anleitung. So, wie es auch bei allen anderen Dingen der Fall ist, die der Mensch lernen will, ob Tanzen, Autofahren oder Kochen.
Nun ist es nicht so, dass in den Klassikern der Gehörbildungsliteratur völlig auf Anleitung verzichtet würde. In aller Regel aber konzentriert sich diese auf einen musiktheoretischen Ansatz: Durch die Förderung musiktheoretischer Kenntnisse, so hofft man, profitiere auch das Gehör.4 Dies stimmt auch. Die eigentliche Bildung des Gehörs kommt dabei aber zu kurz: Mit dem bloßen Wiedererkennen von aus der Theorie Bekanntem ist es nicht getan. Jede Person hört anders, nicht jede Hörstrategie aber ist im selben Maße zielführend oder bereichernd. Eine Gehörbildung der Zukunft müsste deshalb vielfältige Hörstrategien vermitteln, jenseits des Quizparadigmas, und auch jenseits einer Gleichsetzung von Musiktheorie und Hörstra­tegie, so segensreich sich musiktheoretische Kompetenz auch auf das Gehör auszuwirken vermag.
Seit einigen Jahren versuche ich, an der Münchener Musikhochschule ein Konzept zu verwirklichen, das ich „Perspektivische Gehörbildung“ genannt habe.5 Dieses Konzept geht davon aus, dass sich jedes musikalische ­Ereignis unterschiedlich wahrnehmen lässt. Grob gesagt lassen sich dabei drei Hörhaltungen unterscheiden, die ich Hörperspektiven nenne: die absolute, die lineare und die vertikale Perspektive.

Nehmen wir zur Erläuterung den Anfang von Robert Schumanns Kinderszenen und betrachten wir der Einfachheit halber nur die Melodie (siehe Abbildung). Wenn wir die absolute Perspektive einnehmen (in der Abbildung rot), erscheint uns die Melodie als Folge von Tonhöhen: h, g, fis etc. Wenn wir die Perspektive wechseln und die lineare Perspektive einnehmen (grün), erscheint uns die Melodie als Folge von Intervallen. Wechseln wir erneut unsere Wahrnehmungshaltung und nehmen wir die vertikale Perspektive ein (blau). Jetzt bezieht sich jeder Ton der Melodie auf die gleichzeitig klingenden darunter liegenden Töne – oder auf den als gleichzeitig gedachten Grundton des Stücks. Jede dieser drei Hörperspektiven lässt die Melodie unterschiedlich erleben.6
Wenn wir anhand stilistisch möglichst unterschiedlicher Beispiele bewusst die Perspektiven wechseln, so das Credo der Perspektivischen Gehörbildung, dann bildet sich dabei das Gehör, und zwar nicht einseitig, sondern vielseitig.7 Das fördert sicherlich nebenbei auch die Tonhöhenerkennung, was etwa in einer Prüfungssituation an einer Musikhochschule von Bedeutung ist. Im Tonhöhenquiz liegt aber nicht der einzige Sinn der Sache und schon gar nicht der tiefere.
Die hier skizzierte Methode erhebt nicht den Anspruch, das Rad neu erfunden zu haben. Ein Pluralismus musikalischer Wahrnehmungsstrategien aber, ein intersubjektiver Austausch jenseits der Frage, wie denn die Töne heißen, könnte und sollte in der Gehörbildung der Zukunft eine größere Rolle spielen als bisher.
In diesem Zusammenhang ist als große Chance zu betrachten, was sich gerade im Bereich der Open Educational Resources (OER) ereignet. Seit einigen Jahren existiert die Lernplattform ELMU,8 erst seit ganz Kurzem die Open Music Academy (OMA).9 Ziel dieser Formate ist die nicht-kommerzielle Bereitstellung von Lernmaterialien für verschiedene Lerngruppen, „eine Lernplattform für jung und alt bzw. alle, die sich für Musik interessieren“, wie Initiator Ulrich Kaiser es beschreibt.10 Dahinter steckt auch ein Gedanke sozialer Teilhabe: Musikalische Bildung soll allen offen stehen und alle können sich daran beteiligen, ganz so, wie dies als vielleicht prominentestes Beispiel auch bei Wikipedia der Fall ist.
Es gibt also Anlass zur Hoffnung, dass hier ein Forum im Entstehen ist, auf dem verschiedene Menschen verschiedene Beiträge leisten, von denen alle profitieren. Für die Gehörbildung hieße das: Methodenvielfalt, Austausch über verschiedene Hörtechniken, Bereicherung der eigenen musikalischen Wahrnehmung durch das Hören der anderen. Eine im besten Sinne pluralistische Herangehensweise – und im Idealfall die Versöhnung des Quizparadigmas mit den höheren Lernzielen.

1 Vor etlichen Jahren bat ich meine Studierenden im Dip­lomstudiengang Gehörbildung (noch vor der Bolognareform), frei assoziierend Begriffe aufzuschreiben, die ihnen zum Thema Gehörbildung einfielen. Ein Student – er ist heute übrigens Professor für Musiktheorie – schrieb zuallererst in großen Buchstaben das Wort „Angst“.
2 Kühn, Clemens: Gehörbildung im Selbststudium, Kassel 122007, S. 8.
3 So z. B. auch die App Better Ears, die zwar erfreulicherweise sogar im Menü unter der Überschrift „Lernen“ Texte mit Informationen zum absoluten und relativen Hören bereitstellt, aber keine Tipps, Hilfestellungen oder gar Strategien. Dass mit Hilfe Künstlicher Intelligenz in den nächsten Jahren effizientere Gehörbildung stattfinden wird, ist zu hoffen, ändert aber nichts am Grundproblem; vgl. https://apps.apple.com/de/app/ better-ears-eartrainer/id284444548 (Stand: 21.5.2022).
4 So sieht es offenbar auch Ute Ringhandt. In ihrem durchaus hilfreichen Crashkurs Gehörbildung heißt es zwar im Vorwort: „Sie [die Gehörbildung] fördert genaues Hinhören, musikalische Konzentration, führt Erkennen, Verstehen, Wiedererkennen und Erinnern zusammen.“ (Mainz 2018, S. 5.) Im Verlauf des Buchs aber wird offensichtlich das Verstehen und Wiedererkennen als Kern der Sache vorausgesetzt. Wie das genaue Hinhören funktioniert, jenseits wiedererkannter Theorie, erfährt man nicht.
5 vgl. dazu auch die folgenden Erklärvideos auf der Lernplattform ELMU, https://elmu.online/docs/ bvHxU39Ft9Zpkw5BUKhfiY/perspektivisch-hoeren (Stand: 21.5.2022).
6 Auch der Rhythmus lässt sich perspektivisch hören, entweder linear als Abfolge verschiedener Dauern oder vertikal, orientiert an Zählzeiten.
7 Mit dem Wechsel der Perspektiven einher geht der Wechsel des Solmisationssystems; vgl. hierzu: https://elmu.online/docs/tANy4xTkKpfAHQ8a2K4dUA/prima-vista-singen-variables-solfege (Stand: 21.5.2022).
8 https://elmu.online (Stand: 21.5.2022).
9 https://openmusic.academy (Stand: 19.6.2022).
10 https://openmusic.academy/docs/cTfhXcxtkgqYLE3k1P6JAR/about-oma (Stand: 7.6.2022).

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