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Herbst, Sebastian

Und was hörst DU?

Zugänge zum inneren Hören

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 20

Ausgangspunkt des Musizierens ist das innere Hören als Vorstellung des intendierten Klangs in Verbindung mit den zur Realisierung notwendigen Musizierbewegungen. Der Austausch über diese individuellen Vorstellungen im inneren Hören ist fester Bestandteil eines jeden Musizierunterrichts. Vor dem Hintergrund der Bedeutung individueller Erfahrungen werden im Folgenden Fallstricke und Potenziale in Bezug auf den Zugang zum inneren Hören über Klang- und Bewegungsvorstellungen im Musizierunterricht diskutiert.

Die Annahme, dass das Hören nicht nur Ziel, sondern auch „Ausgangspunkt […] des Musizierens“1 ist, weist auf die Bedeutung des inneren Hörens für das Musizierenlehren und -lernen hin. Die Klavierpädagogin Beata Ziegler sieht im inneren Hören die Voraussetzung für gelungenes Musizieren und nimmt in ihrem 1929 verfassten Text an, dass „das Geheimnis aller echten Musik […] im Grunde nur auf der idealen Klangvorstellung“ be­ruht.2 Noch deutlicher formuliert sie: „Ist der Ton richtig gedacht […] so stellen sich Entspannung und richtige Bewegung von selber ein.“3
Zieglers Annahme eines durch inneres Hören vorgegebe­nen idealen Klangs als allgemeingültigen, zu erreichenden Soll-Wert, aus dem heraus sich die notwendigen musiziermotorischen Bewegungen dann von selbst einstellen, ist aus drei Gründen kritisch zu betrachten:
1. Ein allgemeingültiges, situationsunabhängiges Klangideal würde die kreative Interpretationsarbeit einschränken.
2. Ein innerlich gehörter idealer Klang kann kaum in Bewegung umgesetzt werden, wenn die dazu notwendigen Bewegungsprogramme nicht einmal ansatzweise erworben sind.
3. Die einseitige Fokussierung auf den Klang vernachlässigt die Bedeutung der Bewegung für das Musizieren, denn „jede Klangerzeugung ist ein körperlicher Akt, jeder Ton ein Körperereignis“.4 So ist anzunehmen, dass sich neben Klangvorstellungen5 auch Bewegungsvorstellungen als visuell oder kinästhetisch vorgestellte Bewegungen6 auf das innere Hören auswirken.7
Eine ausschließliche Fokussierung auf Klangvorstellungen ist für das Musizieren kaum nutzbar, wenn diese nicht mit Bewegungsvorstellungen in Bezug auf die zur Realisierung des intendierten Klangereignis notwendigen musiziermotorischen Bewegungen verknüpft sind. Gleiches gilt für eine ausschließliche Fokussierung auf Bewegungsvorstellungen, wenn diese nicht mit einer Klangvorstellung verknüpft werden. Erforderlich sind daher unterrichtspraktische Ideen, die im Sinne des assoziativen Lernens8 das Ziel verfolgen, wie Klang- und Bewegungsvorstellungen im inneren Hören der Lernenden verknüpft und im Musizieren gemeinsam aktiviert werden können. Diese assoziative Verknüpfung ist sowohl Ausgangspunkt für die Vermittlung neuer Musizierbewegungen im Anfangsunterricht als auch Kernelement einer fortgeschrittenen, detaillierten Interpreta­tionsarbeit. Durch die assoziative Verknüpfung beider Vorstellungsmodalitäten, die sich gegenseitig ergänzen, kann zum einen verhindert werden, dass eine ausschließ­liche Fokussierung auf die Kontrolle der Musizierbewegungen den musikalischen Fluss unterbindet.9 Zum anderen erhält die Bewegung trotzdem eine angemessene Aufmerksamkeit, indem durch die Verknüpfung von Klang- und Bewegungsvorstellungen eben nicht angenommen wird, dass sich automatisch die passende Bewegung einstellt, wenn nur die vermeintlich richtige Klangvorstellung gedacht wird.

Erfahrungsbasiertes inneres Hören

Wenn wir also davon ausgehen, dass eine Verknüpfung von Klang- und Bewegungsvorstellungen die Voraussetzung des vom inneren Hören geleiteten Musizierens ist, erschließt sich, dass die Bildung von Vorstellungen in beiden Vorstellungsmodalitäten einen zentralen Stellenwert im Musizierenlehren und -lernen einnehmen muss. Besonders ist allerdings, dass diese auf der Grundlage von Erfahrungen gebildet werden und damit hochgradig individuell sind. Vorstellungen assoziieren sich nämlich „in Abhängigkeit von individuellen Erfahrungen mit spezifischen Gegebenheiten der Objektwelt, also lernabhängig“ und werden „durch zusätzliche Lernerfahrungen gestärkt“.10 Beim Musizieren ist es dann möglich, Erinnerungsvorstellungen, die auf früheren Erfahrungen basieren, einzubeziehen sowie neue Vorstellungen in Form von Fantasievorstellungen durch die Kombination von Erinnerungsvorstellungen zu bilden.11
Noch deutlicher wird die Relevanz möglichst vielfältiger individueller Erfahrungen für das Musizierenlernen in sogenannten ideomotorischen Ansätzen, die nicht von einer Idealbewegung für jede Bewegung und jedes Bewegungsdetail ausgehen, sondern davon, dass das anti­zipierte Klangereignis (die Idee), die dafür notwendigen Musizierbewegungen (die Motorik) initiiert.12 Für den Erwerb von Musizierbewegungen in Bezug auf ein intendiertes Klangereignis heißt dies, dass Lernende zunächst durch Explorieren vielfältige Erfahrungen darüber sammeln müssen, dass unter bestimmten situativen Bedingungen (z. B. Unterrichtsraum, Instrument, Tagesform) aus einer Musizierbewegung ein bestimmtes Klangereignis als Effekt folgt. Erst nach dem Aufbau dieser klang­bezogenen Bewegungserfahrungen kann das Musizieren dann von der Vorstellung geleitet sein, dass unter bestimmten situativen Bedingungen ein im inneren Hören antizipiertes Klangereignis durch ein entsprechendes sogenanntes Bewegungskommando erzielt werden kann.13
Für den Musizierunterricht bedeutet das, dass ausreichend Angebote bereitzuhalten sind, in denen die Lernenden durch explorierendes Handeln vielfältige Erfahrungen sammeln und ein Repertoire an verknüpften Klang- und Bewegungsvorstellungen aufbauen können. Dazu sind insbesondere zwei Arten von Aufgaben zielführend. Zum einen Aufgaben, im Rahmen derer nach passenden Bewegungen für ein klangliches Ziel zu suchen ist. Mit welchen Bewegungen gelingt es mir, den Klang eines von der Lehrerin oder der Mitschülerin vorgespielten Tons möglichst identisch zu imitieren? Mit welchen Bewegungen gelingt es mir, den charakteris­tischen Klang eines klopfenden Spechts auf das Spiel einer kurzen Phrase eines Klavierstücks zu übertragen? Zum anderen sind Aufgaben erforderlich, bei denen mit unterschiedlichen Bewegungen explorierend Klänge erkundet werden. Wie verändert sich der Klang einer Phrase, wenn ich sie mit möglichst großen Bewegungen oder mit möglichst kleinen Bewegungen nur aus den Fingern spiele? Wie verändert sich der Klang der Phrase, wenn ich die Musizierbewegung z. B. mit der Bewegung eines Flummiballs asso­ziiere? Bei beiden Aufgabentypen ist die Aufmerksamkeit auf das innere Hören sowie das Hören der real erklingenden Klänge zu richten; im gemeinsamen Dialog sind Auslöser für verändert wahrgenommene Klänge zu ergründen.

Sprachliche Zugänge zum inneren Hören

Wenn es schon herausfordernd ist, gemeinsam gehörte Klänge zu beschreiben, trifft dies umso mehr für die Beschreibung von Klang- und Bewegungsvorstellungen zu, weil sie sich zunächst individuell im Inneren der Beteiligten abspielen. „Wer sich der Aufgabe stellt, die inneren Vorgänge des Musizierens plastisch in Worte fassen zu wollen, landet […] unweigerlich auf dem Gebiet von Metapher, Vergleich und Allegorie.“14 Das ist nicht verwunderlich, denn für die Beschreibung von Klang stehen „kaum konventiona­lisierte sprachliche Ausdrücke zur Beschreibung […] zur Verfügung“.15 Und auch eine detaillierte biomechanische Beschreibung der feinmotorischen Bewegungsvorgänge wäre so komplex, dass sie Lernenden kaum helfen und den musikalischen Fluss aufgrund der Kontrolle jedes Bewegungsdetails eher unterbinden würde.
Die Herausforderung sprachlicher Zugänge zum inneren Hören verdeutliche ich mit einer Szene aus einer Klavierunterrichtsstunde:16 Der Lehrer formuliert nach dem Spiel des Schülers, wie er die vom Schüler gespielte Passage gerne hören möchte: „Das Stück ist ja im Grunde so eine Art, im Grunde ist das so ein Elefant, der daherkommt; grade auf einem Flügel merkt man es ja auch – und wenn man so tolle Interpretationen von diesem Augustin Anievas und von Tzimon Barto und so hört, ne!? Dann merkt man, was in diesen Kerlen ja auch für eine Kraft steckt und was für eine Hemmungslosigkeit, also auch dynamisch, das da die Extreme aufzusuchen.“
Zur Beschreibung seiner Klangvorstellung wählt der Lehrer zunächst eine Bewegungsassoziation in Bezug auf die Bewegung eines Tieres (Daherkommen eines Elefanten), anschließend folgt etwas versteckt ein Hinweis auf die mögliche Klangfülle eines Flügels und daraufhin vergleichende Beschreibungen von Interpretationen bekannter Musiker in Bezug auf Bewegung und Klang. Da er offensichtlich vermutet, dass der Schüler die erwähnten Interpretationen nicht kennt, liefert er eine kurze Beschreibung, indem er das Musizieren der Interpreten als „kraftvoll“ und „hemmungslos“ sowie „dynamisch das Extreme aufsuchend“ beschreibt. Die vielfältigen Ebenen zeigen seine komplexen Bemühungen, sich verständlich zu machen.

Wenn es schon herausfordernd ist, gemeinsam gehörte Klänge zu beschreiben, trifft dies umso mehr für die Beschreibung von Klang- und Bewegungsvorstellungen zu, weil sie sich zunächst individuell im Inneren der Beteiligten abspielen.

Der Schüler zeigt sich jedoch nicht einverstanden mit der Elefanten-Assoziation: „Der Elefant ist mir zu schwerfällig. Ich würde eher so…“. Der Lehrer unterbricht: „Ne, ich meine so in diesem – denk dran, der Elefant ist auch ein sehr sensibles Tier, ne!? Also sagen wir mal dicke Schale und trotzdem sehr, sehr sensible…“. Auch wenn der Schüler begründet, warum er die Elefanten-Assoziation in Bezug auf seine Klang- und Bewegungsvorstellung als unpassend empfindet, wird er in seiner Intention, eine aus seiner Sicht passendere Assoziation vorzuschlagen, vom Lehrer unterbrochen; dieser präzisiert, um welchen Aspekt des Elefanten es ihm geht bzw. wie er sich den Elefanten vorstellt.

1 Doerne, Andreas: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019, S. 59.
2 Ziegler, Beata: Das innere Hören als Grundlage einer natürlichen Klavierspieltechnik, Frankfurt am Main 1928/2010, S. 12.
3 ebd., S. 10.
4 Rüdiger, Wolfgang: Der musikalische Körper. Ein Übungs- und Vergnügungsbuch für Spieler, Hörer und Lehrer, Mainz 2007, S. 7.
5 Zum Begriff der Klangvorstellung und empirischen Befunden siehe z. B. Hubbard, Timothy L.: „Auditory Imagery: Empirical Findings“, in: Psychological Bulletin, 136. Jg., 2010, Heft 2, S. 302-329.
6 Heuer, Herbert: „Bewegungsvorstellung“, in: Witz, Markus Antonius (Hg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie, Bern 2021, S. 308.
7 Dass Vorstellungen nicht nur auditiv, sondern grundsätzlich in jeder sensorischen Modalität auftreten können, gilt als empirisch abgesichert. Siehe dazu: Spence, Charles/Deroy, Ophelia: „Crossmodal Mental Imagery“, in: Lacey, Simon/Lawson, Rebecca (Hg.): Multisensory Imagery, New York 2013, S. 157.
8 siehe dazu: Stangl, Werner: Stichworte „Assoziation“, „Assoziatives Lernen“, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, http://lexikon.stangl.eu (Stand: 14.7.2022).
9 Saxer, Marion: „Spiel- und Übe-Anweisungen für motorische Automatisierungsprozesse beim Instrumentalspiel. Ergebnisse der Motorikforschung in der musikpädagogischen Diskussion“, in: Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen – Konzepte – Methoden, Wiesbaden 2007, S. 229.
10 Seel, Norbert M.: Psychologie des Lernens. Lehrbuch für Pädagogen und Psychologen, München 2003, S. 149.
11 Knauff, Markus: „Vorstellung“, in: Witz, Markus Antonius (Hg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie, Bern 2021, S. 1947.
12 Künzell, Stefan: „Modelle der Bewegungskontrolle und des Bewegungslernens in sportpädagogischer Perspektive“, in: Bietz, Jörg/Laging, Rald/Pott-Klindworth, Mike (Hg.): Didaktische Grundlagen des Lehrens und Lernens von Bewegungen: Bewegungswissenschaftliche und sportpädagogische Bezüge, Baltmannsweiler 2015, S. 61 f.
13 Hossner, Ernst-Joachim/Müller, Hermann/Voelcker-Rehage, Claudia: „Koordination sportlicher Bewegungen – Sportmotorik“, in: Güllich, Arne/Krüger, Michael (Hg.): Sport. Das Lehrbuch für das Sportstudium, Berlin/Heidelberg 2013, S. 231.
14 Fuhrmann, Gregor: Das tastende Ohr. Musikalische Intelligenz und Mündiges Üben, Hildesheim 2014, S. 16.
15 Stöckl, Hartmut: „An den Grenzen des Sagbaren. Schreiben über Musik – Sprachliche Ressourcen der Klangbeschreibung“, in: Kodikas, Code Ars Semeiotica, 34. Jg., 2012, Heft 1-2, S. 145-165, hier: S. 155.
16 Die Szene stammt aus dem Videomaterial der folgenden Arbeit: Herbst, Sebastian: Sprache im Instrumentalunterricht. Eine Untersuchung über Inhalt und Funktion mündlicher Kommunikation im Klavierunterricht, Dortmund 2014, hdl.handle.net/2003/33600 (Stand: 17.10.2022).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2022.