Boulanger, Lili

Die Flötenwerke

für Querflöte und Klavier, hg. von Elisabeth Weinzierl und Edmund Wächter

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2022
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 61

Diese Ausgabe der vier Werke für Flöte und Klavier von Lili Boulanger (1893-1918) enthält ein Vorwort mit Lebenslauf und detaillierten editorischen Informationen. Darin steht über die bisher noch unveröffentlichte Pièce, deren Autograf die Bibliothèque nationale in Paris zur Verfügung stellte: „Der vollgriffige, mehrstimmige Klaviersatz […] zeugt von harmonischer Experimentierlust, die eventuell mit dem Einfluss des in Frankreich zu dieser Zeit modischen ,Wagnérisme‘ erklärbar ist.“ Auch wenn das Autograf von Pièce mit „pour Violon ou Flûte et Piano (1910)“ betitelt ist, ähnelt die Flötenstimme einer gesungenen Stimme. Man könnte, wenn man das Flöten-Repertoire von Lili Boulanger noch erweitern wollte, ohne viel Mühe sich eines der Lieder der Komponistin auf der Flöte vornehmen, mit flötistischen Abwandlungen der Singstimme;
z. B. eignet sich Le Retour von 1918 wunderbar. Meine Idee wäre, Lili Boulangers D’un soir tris­te in ihrer Cello-Klavier-Version mit Zuhilfenahme ihrer Klaviertrio-Version zu einem Flöte-Klavier-Duo umzuarbeiten.
Erstmalig wurde das fröhliche Cortège („Prozession“) durch eine kontrastierende Introduktion für Flöte und Klavier erweitert. Diese haben die beiden HerausgeberInnen arrangiert aus einer Aufnahme mit Nadia Boulanger am Klavier und gesungener Oberstimme. Sie wurde dort als „Introduction“ vor Cortège platziert.
Des Weiteren befindet sich Boulangers berühmtes Nocturne in impressionistischer Klangsprache in dieser Ausgabe. Es erinnert mich durch die singende Schönheit der Melodie und den ekstatischen Höhepunkt sehr an Wagners Romanze aus dem Albumblatt von 1920, die ebenfalls in einer Bearbeitung für Flöte vorliegt. In der spätromantischen Intensität der Naturbeschreibung geht auch das vierte Stück im Band, D’un matin de printemps („Von einem Frühlingsmorgen“), über den zeitgenössischen Impressionismus hinaus. Die vier kammermusikalischen Miniatu­ren ergeben eine knappe Viertelstunde Musik. Sie sind für die Flöte leicht bis mittelschwer.
Lili Boulanger wurde 1893 in eine Musikerfamilie in Paris geboren. Ihre später als außergewöhnliche Kompositionslehrerin sehr berühmte Schwester Nadia Boulanger gab dem Wunderkind Lili schon sehr früh Unterricht in Musiktheorie. Sie studierte Komposition und Orgel, sang und spielte auch Klavier, Geige, Cello und Harfe. Als erste Frau gewann Lili den begehrten Prix de Rome, jedoch starb sie bereits mit 24 Jahren.
Inzwischen gilt Lili Boulanger als meistaufgeführte Komponistin und als eine der Hauptfiguren des französischen Impressionismus. Von der hochtalentierten, hervorragend ausgebildeten Komponistin gibt es knapp 50 erhaltene Werke, aber nur sehr wenig Kammermusik – nur etwa sieben, meist kurze Stücke. Nicht zuletzt deshalb ist diese Sammlung (mit der erstmaligen Herausgabe der kleinen Pièce) besonders wertvoll.
Barbara Rosnitschek