© Christian von Polentz

Bossen, Anja

Zwischen Aufladung und Verdrängung

Über das schwierige Verhältnis von Musikpädagogik und Politik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 06

Alles ist politisch. Es gibt kein unpolitisches Leben im politischen, denn jeder Mensch unterliegt bestimmten gesellschaftlich-politischen Kräften und Einflüssen – so auch die täglich unterrichtenden MusikpädagogInnen und die Musikpädagogik als eine von ihnen ausgeübte Fachdisziplin.

Sämtliche gesellschaftlichen Bereiche werden von den jeweils aktuellen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen geprägt, sei es im Umweltsektor, im Gesundheitssektor, im Wirtschaftssektor, im Arbeitssektor, in der Bildung oder Kultur. Dementsprechend unterliegt auch jegliche Musik, die in einer bestimmten Epoche entsteht, den jeweils aktuellen historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen; und auch die Musikpädagogik als Teilbereich der Pädagogik mit dem Ziel musikalischer Bildung wird von ihnen bestimmt.
Die Paradigmen sowohl in der praktischen Musikpädagogik als auch in der Musikpädagogik als Wissenschaft haben sich seit ihrem Bestehen unter dem Einfluss politisch-gesellschaftlicher, häufig auch gegensätzlicher Ein­flüsse immer wieder gewandelt, was mit weitreichenden Folgen für den Umgang mit Musik verbunden war bzw. bis heute ist.1 Denkt man beispielsweise an den Extremfall des gesellschaftspolitischen Auftrags, mit dem das Singen im NS-Regime aufgeladen war und bei dem es vor allem um die völkische Gemeinschafts- und Identitätsbildung ging, so wurde nach 1945 vor allem durch die kritische Schrift Dissonanzen von Theodor W. Adorno (1956) zumindest in Westdeutschland ein neuer musikpädagogischer Diskurs angestoßen, der in eine jahrzehntelang andauernde Krise des Singens mündete. Anders entwickelte sich die Musikpädagogik in der DDR, wo eine Auseinandersetzung mit dem Missbrauch des Singens im „Dritten Reich“ nicht in gleicher Weise stattfand wie in der BRD und das Singen von Liedern mit politischem Gehalt – wie z. B. Pionierliedern oder Arbeiterliedern – staatlicherseits ausdrücklich erwünscht war. Die Musikpädagogik der DDR und die Musikpädagogik der BRD unterlagen also ganz unterschiedlichen Paradigmen.2

Musikpädagogische Paradigmen im Wandel

Auch im 21. Jahrhundert wandeln sich gesellschaftliche Paradigmen und es werden im nunmehr vereinten Deutschland der Musikpädagogik neue gesellschaftspolitische Aufträge zugewiesen. Damit verbunden sind zahlreiche gesellschaftspolitische Hoffnungen, die immer wieder als funktionell aufgeladene Argumente dafür angeführt werden, warum Kulturelle Bildung – und damit auch die Musikpädagogik – für unsere demokratische Gesellschaft unverzichtbar sei. Übergeordnet geht es dabei um den gesellschaftlichen Zusammenhalt trotz zunehmender Individualisierung und weithin ungleich verteilter Lebenschancen vor dem Hintergrund neoliberaler Paradigmen.
So sollen mittels musikpädagogischer Angebote, meist in Projektform, bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie MigrantInnen, bildungsferne Kinder und Jugendliche, Alte, Behinderte oder auch straffällig gewordene Menschen besser in die Gesellschaft integ­riert werden. Den musikpädagogischen Angeboten für diese Zielgruppen kommt also die Funktion eines „sozialen Kitts“ zu.3 Neben dem „Musik-als-sozialer-Kitt“-Argument werden ferner verschiedene Transfereffekte musikpädagogischer Maßnahmen angeführt, die in einigen Studien empirisch nachgewiesen werden konnten – in anderen allerdings nicht. Hier sind beispielsweise Effekte einer musikpraktischen Betätigung auf die Sprachentwicklung, die Lese- und Schreibfähigkeit, die Intelligenz, die Sozialkompetenz, die Teamfähigkeit oder die Anstrengungsbereitschaft zu nennen.4 Diese Wirkungen einer musikalischen Betätigung sollen unsere Gesellschaft positiv beeinflussen, indem die entsprechend befähigten Individuen mit Hilfe dieser „Schlüsselkompetenzen“ ein gelingendes und zufriedenes Leben führen sowie einen Beitrag zu einem respektvollen, fried­lichen und toleranten gesellschaftlichen Miteinander leisten können. Abgesehen davon sind diese Kompetenzen auch aus Arbeitgebersicht, also wirtschaftlich von Interesse.

Gesellschafts-­politische Aufträge

Die hier exemplarisch genannten Transfereffekte musikpädagogischer Maßnahmen dienen häufig nicht nur MusikpädagogInnen selbst als Argumente für die Bedeutsamkeit ihres Berufs, sondern werden auch gern von politischen Entscheidungsträgern auf öffentlichen Veranstaltungen zitiert und als Legitimation für die Implementierung bestimmter musikpädagogischer Maßnahmen angeführt, wie z. B. bei dem flächendeckenden Projekt „Jedem Kind ein Instrument“, das auf Chancengerechtigkeit und Teilhabe im Bereich musikalischer Bildung abzielt(e).
Auch aus der aktuellen Förderpraxis von Projekten wird deutlich, dass es vorrangig um sozialpolitische Aufträge und weniger um Fachkompetenzen geht. Für alle MusikpädagogInnen, die sich um Projektgelder bewerben, besteht die zwingende Notwendigkeit zum „Andocken“ an die jeweils aktuellen gesellschaftspolitischen Themen wie z. B. Inklusion, Migration, Integration, Fluchterfahrung, Diversität, Digitalisierung oder Nachhaltigkeit. Dabei handelt es sich um wichtige gesellschaftliche Themen und die Musikpädagogik kann hierzu fraglos einen Beitrag leisten. Doch scheint die Frage berechtigt, was bei der momentan zu beobachtenden enormen Fokussierung auf ein bestimmtes Förderthema aus den anderen Bereichen wird, die ebenfalls gesellschaftlich wichtig sind, z. B. aus der Hochbegabtenförderung. Und sollten vielleicht zuerst die langen Wartelisten der von sich aus an musikalischer Bildung interessierten Menschen an öffent­lichen Musikschulen abgebaut werden, statt ständig neue Zielgruppen „erschließen“ zu müssen, die nach Beendigung eines Projekts bestenfalls auch auf einer solchen Warteliste landen, sofern sie überhaupt über die notwendigen finanziellen Mittel für den Unterricht verfügen? Handelt es sich bei dieser Verfahrensweise nicht um eine indirekte Benachteiligung der von sich aus an Instrumental- und Vokalunterricht interessierten Kinder und Jugendlichen, deren Chancen (z. B. einen Musikberuf ergreifen zu können) gegen die Chancen anderer, „bildungsferner“ Kinder und Jugendlicher ausgespielt werden?

1 vgl. hierzu Abel-Struth, Sigrid: Grundriss der Musikpädagogik, Mainz 2005, S. 37-50.
2 Dass die Musikpädagogik der DDR ein bis heute in der musikpädagogischen Forschung noch kaum aufgearbeitetes Gebiet darstellt, ist ebenfalls ein Politikum.
3 https://science.apa.at/power-search/ 2140898544499543191 (Stand: 21.12.2022).
4 vgl. hierzu die Übersicht über Studienergebnisse bei Gembris, Heiner: Transfer-Effekte und Wirkungen musikalischer Aktivitäten auf ausgewählte Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung. Ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, Paderborn 2015, online verfügbar unter www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/ files/Projekte/47_MIKA/Gembris_Expertise_final.pdf (Stand: 21.12.2022).

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