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Mahlert, Ulrich

Musikalisches Zeitenkaleidoskop

Zeitschichten im Hören und Musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 06

Im Erleben von Musik verdichten sich vielerlei Arten von Zeit. Solchen Vor­gängen nachzuspüren intensiviert und vertieft die Beziehungen zu persönlich bedeutsamen Musikstücken.

Es kann einem schwindlig werden, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Arten von Zeit im Hören und Spielen von Musik vorhanden sind. Musik ist klanglich modellierte Zeit. Wer musiziert, gestaltet Klänge und Zeit. Aber in diesen Ausgestaltungen verbinden sich ganz unterschiedliche Erscheinungsformen von Zeit. Ich nenne sie Zeitschichten. Dieses Wort erscheint mir passend, weil es die Vorstellung beinhaltet, dass sich etwas überlagert, also gleichzeitig da ist. Überdies hat „Schicht“ wortgeschichtlich etwas mit „ereignen“, „geschehen“ und „Geschichte“ zu tun,1 trägt also das Moment des Verlaufs in der Zeit in sich.
Es gibt Momente und Phasen, in denen Hörende und Spielende in einer einzigen, erfüllten musikalischen Erlebniszeit „aufgehen“: Die Alltagszeit ist ausgeschaltet, das Ticken der Uhr gleichsam außer Kraft gesetzt, nur die von der Musik gestiftete Zeit scheint zu existieren. Ein wunderbares Gefühl, dieses „Es spielt mich“:2 eine gleichsam transzendente, die Wirklichkeit übersteigende Art des Erlebens von Musik.
Aber dieses Gefühl in Reinform hält meist nicht lange an. Andere Inhalte mischen sich hinein: Gedanken, Assoziationen, Alltagsbegebenheiten, Erinnerungen, Selbstwahrnehmungen, Rückblenden. Hinzu kommen beim Üben die Planung und Nutzung der Zeit, in der es stattfindet. Das Erleben von Musik im Hören und Musizieren geschieht somit als ein zwischen verschiedenen Zeitschichten fluktuierender Vorgang.

Man kann nicht sagen, was die Zeit ist. Aber sie ist etwas, womit man umgehen kann, ohne zu wissen, was es ist.

Zeit ist in den Natur- und Geisteswissenschaften ein hochkomplexes und bis heute rätselhaftes Phänomen.3 Und doch verwenden wir den Begriff fortwährend und können uns mit ihm über Zeiterfahrungen verstän­digen. Der Philosoph Werner Stegemeier schreibt: „Man kann nicht sagen, was die Zeit ist. Aber sie ist etwas, womit man umgehen kann, ohne zu wissen, was es ist. So ist der Umgang mit der Zeit ein unbewusst gelingender Mechanismus des Alltags – und als solcher ein Teil der Lebenskunst.“4 Es dürfte möglich sein, auch ohne eine in diesem Zusammenhang nicht leistbare theoretische Bestimmung von „Zeit“ sinnvolle Aussagen über Zusammenhänge von Musik, Musizieren und Zeiterleben zu machen und dazu anzuregen, dem Erleben von Zeit im eigenen Umgang mit Musik nachzuspüren. Daraus können sich pädagogische Überlegungen ergeben.

Musikimmanente ­Zeitschichten

Zunächst versuche ich, einige für das Hören und Spielen von Musik relevante Zeitschichten möglichst knapp zu unterscheiden. Eine erste Gruppe betrifft die Musik selbst:
– Ein Musikstück hat eine bestimmte Zeitdauer.
– Ein Musikstück stiftet eine spezifische musikalische Zeit, die etwas anderes ist als die messbare Dauer: melodischer Verlauf, Takt und Rhythmus bilden ein energetisches Gefüge, das eine bestimmte Erlebniszeit konstituiert. Oft verbinden sich sukzessiv-lineare und zyklische Zeitmodi: Die Melodie hat eine Richtung, ist also linear angelegt (was nicht periodische Wiederkehr bestimmter Einheiten ausschließt), der Takt andererseits ist ein wiederkehrendes Ordnungsschema und als solches zyklisch.
– Ein Musikstück hat eine historisch (politisch, gesellschaftlich, musikgeschichtlich) geprägte Entstehungszeit.
– Ein Musikstück entsteht zu einer bestimmten Lebenszeit des Komponisten bzw. der Komponistin.
– Ein Musikstück ist mitgeprägt durch die ihm vorangehende musikgeschichtliche Entwicklung; und ebenso stehen zukünftige Werke in ihrer Neuheit in Verbindung mit dem Stück, indem sie seine Stilistik weiterentwickeln oder sich von ihr absetzen. Ein Werk lässt sich hören als Innovation gegenüber früherer Musik. Die entstehungszeitlich, geschichtlich und durch die Biografie des Komponisten oder der Komponistin geprägten Zeitebene verzweigt sich: „Es komponiert ja einer nicht allein, sondern es komponieren ganz, ganz viele […] zusammen, und es komponiert der Kontext mit und es komponieren Reibereien und Widersprüche zum Bestehenden mit.“5 Die Stimmen der Vorgänger tönen gleichsam unterschwellig in der erklingenden Musik mit. Zu denken ist an Bernd Alois Zimmermanns Konzept der „Kugelgestalt der Zeit“:6 In jedem musikalischen Ereignis verdichten sich die geschichtlichen Zeitschichten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart ist gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft, ohne beide existiert sie nicht. Die Wahrnehmung des Vergangenen und potenziell Zukünftigen im Gegenwärtigen und die Reflexion dieses Wahrnehmens kennen keine Grenzen.
Nicht erst durch das Ausgreifen auf persön­liche lebenszeitliche Wahrnehmungen gewinnt das Zeitschichtenerleben seine Komplexität. Schon das Musikstück selbst birgt, wie angedeutet, diverse Zeitebenen in sich. Polyfonie verbindet verschiedene innermusikalische Zeitverläufe. György Ligetis Komposition Poème symphonique für 100 Metronome etabliert 100 Zeitebenen. Niemand vermag sie allesamt einzeln wahrzunehmen; das Hören kann sich phasenweise auf ein einzelnes Instrument richten; hauptsächlich wird das Zeitgemenge als fluktuierende Gesamtgestalt erlebt.

Lebensgeschichtliche Zeitschichten

Eine zweite Gruppe von Zeitschichten bezieht sich auf die Menschen, die mit der jeweiligen Musik umgehen:
– Ein Musikstück wird jeweils zu bestimmten Zeiten geübt und gespielt.
– Ein Musikstück wird zu bestimmten Zeiten im Leben von Lehrenden und Lernenden unterrichtet.
– Wer ein Musikstück hört oder spielt, hat ein bestimmtes Lebensalter mit eigenen biografischen Erfahrungen. Möglicherweise hat er eine bestimmte Geschichte mit ihm: Er oder sie hat sich in verschiedenen Lebenszeiten mit ihm beschäftigt, sodass eine persönliche Beziehung zu dem Stück gewachsen ist. Im Umgang mit Musik speichert sich Lebenszeit und findet eine Beschäftigung mit ihr statt.
Diese Zeitarten, die sich erheblich erweitern und differenzieren lassen, sind beim Hören und Spielen von Musik und nicht zuletzt beim Nachdenken über Musik in diversen Verbindungen und Konstellationen vorhanden. Die nachfolgenden Ausführungen, die zeitspezifischen Erfahrungen im Umgang mit Musik nachspüren, befassen sich hauptsächlich mit Elementen der zweiten Gruppe (ohne damit die beständige Wirksamkeit der unmittelbar der Musik eigenen Zeitmodi in Frage zu stellen).

1 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 14, Sp. 2633, https://woerterbuchnetz.de (Stand: 30.4.2023).
2 dazu Doerne, Andreas: Es spielt. Das Geheimnis des Musizierens und seine Vermittlung, Essen 2002.
3 Aufschlussreich zum Phänomen Zeit: Kasten, Hartmut: Wie die Zeit vergeht. Unser Zeitbewusstsein in Alltag und Lebenslauf, Darmstadt 2001; Mainzer, Klaus: Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit, München 31999; Safranski, Rüdiger: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015.
4 Stegemeier, Werner: „,Die Zeit heilt alle Wunden‘. Zu einem Spruch der kritischen Lebenskunst“, in: psychosozial, Jg. 43 (2020), Heft IV (Nr. 162), S. 94.
5 Mathias Spahlinger, in: Geschichte der Musik als Gegenwart. Hans Heinrich Eggebrecht und Mathias Spahlinger im Gespräch, Musik-Konzepte Sonderband, edition text + kritik XII/2000, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, S. 43.
6 Zimmermann, Bernd Alois: Intervall und Zeit. Aufsätze und Schriften zum Werk, hg. von Christof Bitter, Mainz 1974; siehe auch Safranski, S. 224 f.

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