Kienzle, Ulrike

Von treibender Kraft und glücklichen Augenblicken

Das Motiv als Ausgangspunkt für die Erfahrung musikalischer Zeit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 11

Manchmal reichen drei oder vier Töne und man ist mittendrin und vergisst sie nicht wieder. Der Initialklang von Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie in c-Moll ist so ein Beispiel. Nach einer Achtelpause, die man logischerweise gar nicht hören, sondern nur empfinden kann, erklingt auf unbetontem Taktteil dreimal ein g im Fortissimo und springt sodann eine Terz abwärts, wo der Ton es ganztaktig und mit Fermate verweilt. Das ist alles. Ganz einfach, oder? Und doch ist diese Keimzelle, die kaum länger als eine Sekunde dauert, nicht nur eine musikalische Sinneinheit, sondern die treibende Kraft des gesamten sinfonischen Satzes.

Die Wiederholung dieses viertönigen Motivs einen Ton tiefer schafft eine Abgrenzung. Was wiederholt werden kann (und sei es als Sequenz), ist gewissermaßen in sich abgeschlossen. Und so ist das Motiv nichts weiter als ein Baustein. Das Gebilde wirkt offen und unfertig. Aus dem Widerspruch zwischen Abgrenzung und Offenheit erwächst eine energetische Spannung, ein Sog, der nach Fortsetzung und Entwicklung verlangt. Unfassbar, was daraus wird: Engführungen, Umkehrungen, kontrapunktische Verwicklungen, dramatische Zuspitzungen! Und das Motiv ist immer gegenwärtig. „So klopft das Schicksal an die Pforte!“, soll Beethoven zu seinem Biografen Anton Schindler gesagt haben.* Unerbittlich sind wir im Labyrinth des Motivs gefangen.
Was bedeutet eigentlich das Wort „Motiv“? Das lateinische „motivus“ heißt beweglich; „movere“ bedeutet bewegen. In der Psychologie ist ein Motiv der Beweggrund, die Triebfeder für Handeln und Entscheiden. In der Bildenden Kunst ist es ein typisches Sujet, ein wiederkehrender Topos. Und in der Musik ist es das bewegende Moment einer Komposition, aus dem sich vielleicht ein vielgliedriges Thema entwickelt. Somit ist das Motiv die kürzeste musikalische Sinneinheit, sein Merkmal ist die Wiedererkennbarkeit.
Beethovens eingangs erwähnte 5. Sinfonie zeigt uns das Motiv als „Movens“ im Sinne einer dramatisch bewegenden Urkraft, die sinfonisch in der Zeit entfaltet wird. Das gilt auch für zusammengesetzte Themen. Beethovens Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 beginnt mit zwei kontrastierenden Motiven – dem aufspringenden f-Moll-Dreiklang und der Abschlusstriole. Gehören sie zusammen? Ja, indem sie gemeinsam das Thema bilden, in dem die aufsteigende „Mannheimer Rakete“ des ersten Motivs in der Triole des zweiten Motivs ausschwingt. Aber sie werden unabhängig voneinander durchgeführt. Daraus ergeben sich reizvolle Kontraste.
Manchmal aber erfahren wir das Motiv als glücklichen Augenblick, in dem die Zeit selig sich selbst genügt. Wer immer mit dem Klavierspiel beginnt, sehnt sich danach, endlich Beethovens Für Elise spielen zu dürfen. Ein zeitenthobenes Pendeln zwischen e und dis, das sich traumverloren nach der Tonika a-Moll wendet, die von der unteren Stimme in einer Aufwärtsbewegung beruhigend bestätigt wird. Auch das ist ein Motiv, aber es entwickelt sich nicht, sondern erzeugt eine schwebende Stimmung. Nach jedem kont­rastierenden Zwischenspiel erwarten wir sehnsüchtig die Wiederholung dieses Ritornells wie das alljährliche Aufblühen junger Knospen im Frühling. Das Moment der Wiederholung gestaltet die Erfahrung musikalischer Zeit als etwas Heiliges, Rituelles.
Und dann gibt es noch die überraschenden Augenblicke: Motive, die einschlagen wie Blitze und das musikalische Geschehen in eine ganz andere Richtung drängen – wie im zweiten Akt von Beethovens Fidelio: Im Augenblick der höchsten Gefahr, als der vermeintliche Lehrjunge sich als Ehefrau des Gefangenen zu erkennen gibt und die Pistole auf den Mörder ihres Mannes richtet, erklingt – ganz aus der Ferne – eine Fanfare, die die Ankunft des Ministers ankündigt. Ein Augenblick, der die Zeit im wörtlichen Sinne still stellt. Danach wird nichts mehr so sein wie vorher: Die höchste Gefahr schlägt um in die Rettung. Die Fanfare ist „Motiv“ im Sinne der Peripetie des Dramas.
Kann es ein Motiv geben, das nur aus einem einzigen Klang besteht? Das Vorspiel zu Richard Wagners Oper Tristan und Isolde beginnt mit einem klagenden Sextaufsprung, der nach einem Sekundabstieg in einen unverwechselbaren Akkord mündet, der wie eine Urzeugung wirkt und die Hörenden in das Leiden der unendlichen Sehnsucht zieht. Statt einer Auflösung der Dissonanz folgt eine chromatische Weiterführung. Alle drei Momente – Sextaufsprung, „Tristan-Akkord“ und chromatische Fortsetzung – entwickeln im Verlauf des Dramas ein Eigenleben. Doch der Tristan-Akkord ist die Essenz des Werks. Die kürzeste musikalische Sinneinheit in der Musik ist hier ein einzelner Klang.
Was bedeutet dies alles für das Üben und Musizieren? Wir sollten im Blick behalten, dass die energetische Kraft eines noch so kurzen Motivs im wörtlichen Sinne als Beweggrund der Komposition zu verstehen ist, der sich in der Form zeitlich entfaltet. Solche Entwicklungen beim Einstudieren einer Komposition minutiös zu verfolgen, kann zu einer ganz neuen Erfahrung musikalischer Zeit führen. Dann dürfte es auch keinen energetischen Stillstand, keine verlegene Langeweile, keine Monotonie in der Interpretation eines Werks geben. Dann entsteht eine in sich erfüllte Zeit, wie sie besonders die Musik und das Musizieren uns schenken können.

* Schindler, Anton: Biographie von Ludwig van Beethoven, Bd. 1, Münster 31860, S. 158.

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