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Busch, Barbara / Barbara Metzger

Struktur und Empfindung

„Zeit“ aus didaktischer Perspektive

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 12

Zu „Zeit und Musik“ lässt sich trefflich assoziieren: Der Schüler spielt zu schnell und die Notenwerte werden ungenau wiedergegeben. Der Schülerin ist der Zeitgeist der Komposition unbekannt. Vielen fehlt die Zeit zum Musizieren und zum Üben. Die Unterrichtsstunde scheint immer zu kurz oder zu lang. Anders gesagt: Zeit ist ein Phänomen, das für die Musik, den Menschen sowie für den Unterricht gleichermaßen existenziell ist. Daraus lassen sich didaktische Konsequenzen für das instrumentale, vokale und elementare Musizieren ableiten.

Wenn es um das Lehren und Lernen des Musizierens geht, steht nicht der Gegenstand Musik per se im Fokus, sondern die Tätigkeit des Musizierens. Gleichwohl ist das eine nicht vom anderen zu trennen, schließlich wird im Musizieren Musik zum Klingen gebracht. Egal, ob ich selbst musiziere oder der Musik lausche: Das verbindende Moment ist das Hören. Musik, die hörbar gemacht wird, ist flüchtig. Nicht umsonst können Musik und Musizieren (dem Tanz und dem Bewegen ähnlich) als „Kunst in der Zeit“ bzw. als „gestaltete Zeit“ bezeichnet werden.1
Bedenkt man, dass das Phänomen der Zeit zugleich ein markantes Merkmal von Unterricht ist, dann ist es nahliegend, über Zeit als didaktisches Phänomen zu sprechen. Musik, Mensch und Unterricht sind jene drei Perspektiven, aus denen im Folgenden über die Gestaltung von musizierpraktischen Angeboten nachgedacht wird.

Musik ereignet sich in der Zeit

Die erklingende Musik spielt sich unweigerlich in der Zeit ab. Dabei sind Pulsation, Met­rum und Rhythmus die charakteristischen Zeitstrukturen. Das Gedächtnis, die Fähigkeit, die Abfolge von Klängen wahrzunehmen und als Sinneinheiten zusammenzufassen, ist die unerläss­liche Voraussetzung, um Musik zu verstehen. Im Kern geht es darum, die Wiederholung bzw. die Veränderung von Klangfolgen hörend zu erkennen, sich innerlich vorstellen und sich daran erinnern zu können. Eckart Altenmüller bringt diese Zusammenhänge auf den Punkt, wenn er schreibt: „Musik ist Gedächtniskunst“.2 Im Musikunterricht gilt es, Spielideen anzubieten, die diese Gedächtniskunst schulen:
– Call-Call: Ein kurzes Motiv wird vorgespielt und (möglichst unverändert) nachgespielt, es wird also wiederholt. Lernenden fällt es oft nicht leicht, sofort zu reagieren und im Tempo zu bleiben. In diesem Fall bietet es sich an, dass das gehörte Motiv zunächst innerlich vorgestellt und erst dann nachgespielt wird.


– Call-Response: Ein kurzes Motiv wird vorgespielt und anschließend mit einem neuen Motiv in gleicher Länge beantwortet.


– Motivsuche: Innerhalb einer größeren musikalischen Einheit erklingt ein Motiv mehrfach. Es wird gezählt, wie oft das Motiv zu hören war.


– Klangbilder: Das Abbilden von Musik geht Hand in Hand mit ihrer inneren Vorstellung. Gut geeignet ist die Arbeit mit grafischer Notation, weil diese in der Regel selbsterklärend ist und ohne musikbezogene Vorkenntnisse erstellt werden kann.


Musik ereignet sich in der Zeit und ist damit auch immer Spiegel ihrer Entstehungszeit. Folglich kann vom Zeitgeist einer Musik gesprochen werden. Das Wissen um den Zeitgeist kann dazu beitragen, dass Musik (nicht nur) vergangener Zeiten persönlich bedeutsam wird. Dies wiederum mag eine Voraussetzung für stilbewusste Interpretation sein und so bleibt zu fragen: Wie kann im Musikunterricht der Zeitgeist einer Komposition zum Thema werden?
– Historischen Kontext beachten: Das italienische Lied Bella Ciao entstand als Liebeslied, wurde im Zweiten Weltkrieg zum Kampflied von Partisanen und wurde jüngst als Protestlied von der Bewegung Fridays For Future rezipiert.3
– Querverbindung zu anderen Künsten herstellen: In Bildern, Tänzen, Literatur, Filmen etc. wird nach Parallelen zur Musik gesucht. So lassen sich beispielsweise Farbwahl und Pinselführung in impressionistischen Gemälden auf die Klangwelt impressionistischer Musik beziehen. Beide Künste versuchen, die Stimmung und Atmosphäre eines Augenblicks einzufangen.
– Musikstilistische Einflüsse erkennen: „Etwas liegt in der Luft!“ Diese Redewendung lädt dazu ein, zeitgleichen musikstilistischen Entwicklungen und der Rezeption von genrespezifischen Merkmalen nachzuspüren. Erinnert sei etwa an konzertante Tangokompositionen im Schaffen von Astor Piazzolla ab den 1960er Jahren. Das Wissen um die Wurzeln dieser Werke im Tango Argentino, der ab 1890 fester Bestandteil argentinischer Tanz- und Musikkultur war, wird jeder Interpreta­tion zugutekommen.

1 vgl. „Zum Begriff der Zeitkunst“ die Ausführungen von Charlotte Fröhlich, in: dies. (Hg.): KlangKörper ZeitRäume. Elementare Musik mit Erwachsenen, Regensburg 2009, S. 66-69.
2 Altenmüller, Eckart: Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann, Berlin 2018, S. 104.
3 Zollinger, Marc: „Bella ciao – ein Protestlied erobert die Welt“, in: Neue Zürcher ­Zeitung, 15.2.2020, www.nzz.ch/panorama/bella-ciao-ein-protestlied-erobert-die-welt-ld.1540313 (Stand: 6.4.2023).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2023.