Ardila-Mantilla, Natalia / Stephanie Buyken-Hölker / Ursula Schmidt-Laukamp / Christine Stöger (Hg.)

EMSA – Eine (Musik)Schule für alle

Musikalische Bildungswege gemeinsam gehen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2022
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 57

Eine Zwischenbilanz stellt diese Publikation dar, die den Punkt des Innehaltens im dynamischen Prozess der Entwicklung von EMSA markiert. Hinter dem Kürzel verbirgt sich „Eine (Musik)Schule für alle“, eine Initiative, die die musikpädagogische Landschaft Nordrhein-Westfalens, hier vor allem die Institutionen allgemeinbildende Schule und Musikschule, ergriffen hat und das Verhältnis beider ganz neu austarieren möchte.
Zum Modell EMSA gehören Bausteine des Musizierens und Musiklernens, Fortbildungsprogram­me, eigene Publikationen und Tagungen. Die an EMSA mitwirkenden Lehrenden aller Institutionen haben sich in einer EMSA-Community zusammengeschlossen. Gemeinsam nachgedacht wird in EMSA darüber – und das wird man sicher mit Recht als Novum bezeichnen dürfen –, was denn wäre, wenn Kooperationen von Musikschulen und weiterführenden Schulen so gestaltet wären, dass musikalische Bildungswege von beiden Institutionen tatsächlich gleichberechtigt gedacht werden und die Lehrkräfte der Schulen und Musikschulen – so oft gefordert und bislang nicht erreicht – „auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten.
„Musikalische Bildungswege gemeinsam gehen“ ist der Unter­titel des Buchs, das sich in vier Abschnitte gliedert, beginnend mit einem Blick auf die zehnjährige Geschichte von EMSA. Gleich im ersten Aufsatz wirft Heinz Geuen die provokativ anmutende Frage auf, wem denn eigentlich der Musikunterricht gehöre? Jedem auf den Lippen liegt die im Grunde naheliegende Antwort: den Lernenden! Doch spielt Geuen natürlich auf den Streit um die Deutungshoheit über den Begriff „Musikunterricht“ an: Schulmusik oder Musikschule, wem gehört er denn nun? Zugespitzt haben sich solche Fragestellungen durch den Boom des Klassenmusizierens, der Bläserklassen, die in den vergangenen rund 20 Jahren allerorten entstanden sind.
Nicht ganz von der Hand zu weisen dürfte sein, dass allgemeinbildende Schulen eher das Potenzial haben, wirklich alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Für die Musikschulen bleibt oft nur das Mauerblümchen-Dasein als eine der Schulmusik zuarbeitenden Instanz, zudem zementiert im schlechteren Beschäftigungsstatus inklusive Gehaltsstruktur der Lehrkräfte. Auftrag von EMSA ist in diesem Kontext die Begründung wirklich konzeptioneller Partnerschaften beider Institutionen, also die fundierte Einheit musikalischer Bildung. EMSA sieht seine Aufgabe darin, für verbindliche personelle und organisatorische Strukturen zu sorgen, damit eine tatsächlich gelingende Kooperation zwischen den Bildungspartnern nicht einer rein zufälligen glücklichen personellen Konstellation zu verdanken ist.
Im zweiten Teil, „Im Mittelpunkt der Mensch“ überschrieben, werden in fünf Aufsätzen die Perspektiven der Lernenden und Lehrenden in den Fokus gerückt. Wolfgang Lessing und Christine Stöger erörtern zuerst getrennt das Bild des Musiklehrenden und begeben sich anschließend in einen fruchtbaren Austausch. Beide sind sich einig, dass Klassenmusizieren, Chorinitiativen oder Ganztagsangebote meist in Kontexten angesiedelt sind, die eine Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Musiklehrenden an Schulen und Instrumentallehrkräften schwierig erscheinen lässt. Gegen den eher auf Arbeitsteilung zielenden Begriff der Kooperation führen beide die Kollaboration an, bei der man nicht nach Zuständigkeiten trennt. Aus wirklichen Kollaborationen entwachsen im Idealfall gleichberechtigte Formate, die weder nur Instrumental- noch nur Musikunterricht sind.
Im dritten Buchteil geht es um „Die Sache Musik“, die fachlichen Aspekte von EMSA. Michael Dartsch und Heinz Geuen fassen in ihrem Beitrag die Zieldiskussionen beim Instrumentalunterricht und beim schulischen Musikunterricht zusammen. Im musikschulischen Unterricht ist sicher das Spielen respektive das Erschließen einer Komposition hohes Ziel, doch verweisen beide auch auf gesellschaftspolitische Ziele, kulturelle Teilhabegerechtigkeit sowie Transfereffekte wie das Konzentrations- und Gestaltungsvermögen, Kreativität und Sozialkompetenz.
Für den Schulbereich reflektieren die Autoren über musizierbetonten Unterricht, dem Wissenserwerb nachgeordnet ist, über die Gegenparts „elementare Musikalisierung“ und „generelle kulturelle Diskursfähigkeit“, aufbauenden Musikunterricht sowie Unterrichtsmodelle, die stark auf Musikverstehen ausgerichtet sind. Zusammen fänden sich Lehrende aller Fraktionen in der Hoffnung, möglichst allen Menschen einen Zugang zu musikalischer Bildung zu verschaffen.
„Vor Ort“, das abschließende Kapitel, kreist um dynamische Prozesse, die entstehen, wenn Institutionen so intensiv kooperieren oder kollaborieren, dass etablierte Strukturen in Bewegung geraten, skizziert aber auch besondere Herausforderungen in Alltagssituationen, mit denen die Akteure vor Ort konfrontiert sind. Kerstin Weuthen, Musikschulleiterin in Duisburg, benennt den öffentlichen Bildungsauftrag ihrer Institution, aber auch die unheilvolle Problematik der freiwilligen Leistung, die manche Kommune verleitet, sich frei zu fühlen, Musikschulen zu unterhalten oder nicht, sie großzügig oder wenigstens erträglich auszugestalten oder eben nicht. Enthusiasmus beim Gehen neuer Wege stöße oft auf strukturelle Stolpersteine, weiß sie zu berichten, auch, dass Lehrkräfte der öffentlichen Musikschulen unter unsteter Zusammenarbeit leiden, oft wenig Unterstützung erhalten und auch heute noch nicht stets und an allen Schulen willkommen sind. Alle AutorInnen des Buchs dürften sich Weuthens Vision anschließen, dass Musikschulen den Weg in die Schulen nicht als notwendiges Übel und die Schulen die Musikschulen nicht als unbequemen Gast unter vielen anderen sehen, beide sich also als kompetente Bildungspartner wertschätzen.
EMSA – Eine (Musik)Schule für alle gelingt es bestens, eine Bilanz mitten im Prozess der konzeptionellen und strukturellen Weiterentwicklung zu ziehen: Wo steht ESMA heute, wohin geht die Reise? Alle in musikpägogischen Berufen Aktive finden in dieser in jeder Hinsicht ausgezeichneten Publikation reiches Material und ungezählte Anregungen zum Weiterdenken und Weiterarbeiten. Das Buch zeigt völlig zu Recht mit einigem Stolz auf, was bereits erreicht ist, es benennt die Aufträge an die Politik und weist etliche Handlungsfelder für die nahe Zukunft auf.
Uwe Sandvoß