Wilke, Julia

Musik und Bewegung in pädagogischer Einzelarbeit

Videobasierte Analysen zu musik- und bewegungsbezogenen Koordinationsprozessen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2023
erschienen in: üben & musizieren.research 2024

 

Koordinationsprozesse durch und zur Musik

Eine videografische Studie zum Thema „Musik und Bewegung“


Rezension zu:
Wilke, Julia (2023). Musik und Bewegung in pädagogischer Einzelarbeit. Videobasierte Analysen zu musik- und bewegungsbezogenen Koordinationsprozessen. Internationale Hochschulschriften, Band 707. Münster: Waxmann. 228 Seiten, broschiert, 39,90 €, ISBN 978-3-8309-4720-2

Rezensentin: Timea Sari
Rezension veröffentlicht am: 17.04.2024

1. Koordination in musik- und bewegungsbezogenen Lernprozessen

Wie vollzieht sich körperlich-musikalisches Lernen? Welche Koordinationsprozesse werden sichtbar, wenn Kinder sich zu Musik bewegen? Wie können diese Prozesse erfasst werden? In ihrer Dissertation widmet sich Julia Wilke diesen Fragen und präsentiert die Ergebnisse einer videografischen Studie, die sie im Rahmen einer zwölfwöchigen „Intervention mit Musik und Bewegung“ (Wilke, 2023, S. 11) mit drei Jungen im Grundschulalter durchgeführt hat.
Die Dissertation ist in sechs Kapitel gegliedert. Nach einer kurzen Einleitung wird zunächst die theoretische Fundierung der Arbeit dargelegt. Im dritten Kapitel („Empirischer Teil“), nach der Beschreibung des Kontexts, Samplings sowie des Aufbaus und der Durchführung der Intervention, stellt Julia Wilke ihr forschungsmethodisches Vorgehen dar. Nach der Vorstellung der Ergebnisse (Kapitel 4) erläutert die Autorin mögliche Erträge für musikpädagogische Kontexte, bevor sie mit einer Zusammenfassung und dem Ausblick abschließt.
Die Darstellung der theoretischen Grundlagen beginnt Julia Wilke mit der Bestimmung des Begriffs „Koordination“, wie sie ihn im Kontext ihrer Untersuchung verwendet. Unter Koordination versteht sie „Prozesse und Aktivitäten […] in denen sich ein Individuum mit sich selbst, seiner sozialen und materiellen Umwelt inkl. der erklingenden Musik körperlich abstimmt“ (S. 15). Dieser Begriff wird dann weiter ausdifferenziert, indem die Autorin die verschiedenen Formen der Koordination (Intra- und Inter-Koordination), die Ausrichtung koordinativen Verhaltens (uni- oder bidirektional) sowie auch andere Möglichkeiten der Koordination, wie zum Beispiel zu erklingender Musik oder zu Objekten, betrachtet. Die Ausführungen münden schließlich in zwei für die vorliegende Arbeit zentrale Begriffe: (1) „koordinatives Verhalten“, welches mit Bezugnahme auf die Feldtheorie nach Lewin (1969) herausgearbeitet wird, und (2) „pädagogische Koordination“ nach Spychiger (2019). Wie Wilke erklärt, entsteht „koordinatives Verhalten“ aus dem dynamischen Zusammenspiel von Person (und deren bisherigen Erfahrungen und Lernprozessen) und den kontextuellen Einflussfaktoren der gegebenen Situation, die verschiedene „Möglichkeits- und Unmöglichkeitsräume“ (Lewin, 1969, S. 36) enthält. „Wird dies in dem musik- und bewegungsbezogenen Setting sichtbar, kann es dahingehend untersucht werden, wie es durch die dynamische Verbindung von Person und Umwelt hergestellt und im räumlich-zeitlichen Geschehen realisiert wird“ (S. 26). Mit dem Konzept der „pädagogischen Koordination“ verweist Wilke (unter Bezugnahme auf Spychiger, 2019; Hellberg, 2019; Oser, 1994) auf die wichtige Rolle der Lehrenden, die durch ihr Verhalten und Handeln im Unterricht Koordinationsprozesse unterstützen und fördern können. Dies ist für die vorliegende Untersuchung insofern von Bedeutung, als ausgehend von den Ergebnissen Praxisempfehlungen für die „Planung, Durchführung, Diagnostik und Reflexion des Einsatzes von Musik und Bewegung in pädagogischer Einzelarbeit“ (S. 64) herausgearbeitet werden sollen.
Im zweiten Unterkapitel des Theorieteils stellt Julia Wilke verschiedene Theorien vor, die für Bewegungsinterventionen sowie körper- und bewegungsorientierte Ansätze im Allgemeinen und für ihre Untersuchung im Besonderen von Bedeutung sind. Sie bezieht sich hierbei auf die Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget (1923) und auf die Dynamic Skill Theory nach Fischer (1980) aus der Entwicklungspsychologie, auf die Phänomenologie der Wahrnehmung nach Merleau-Ponty (1966) aus der Philosophie sowie auf den Embodiment-Ansatz (Rüdiger, 2018; Tschacher, 2006). Im Anschluss werden drei Anwendungsfelder vorgestellt, die sich implizit oder explizit auf diese Theorien stützen: Rhythmik, Psychomotorik und Motologie. Im dritten Unterkapitel folgt eine detaillierte Vorstellung der Laban-Bartenieff-Bewegungsstudien (LBBS; Kennedy, 2014), die die theoretische Grundlage für die Konzeption der von Wilke durchgeführten bewegungsbezogenen Intervention bilden, sowie die Auseinandersetzung mit und Klärung von weiteren verwandten Konzepten und Begriffen, wie zum Beispiel Musik und Bewegung, musikbezogene Bewegung, Tanzen oder Bewegen zur Musik oder Mobilisierung von Körperwissen.
Im Anschluss erfolgt eine knappe Beschreibung des Forschungsstands, wobei aktuelle musikpädagogische Arbeiten in Bezug auf körper- und leiborientierte Perspektiven des Musiklernens (z. B. Berg, 2018; Oberhaus & Stange, 2017; Rüdiger, 2018; Theisohn, 2019) und einige empirische Studien zum Thema „Musik und Bewegung“ bzw. zu Koordinationsprozessen beim Musizieren (z. B. Hellberg, 2019; Müßgens, 2014; Retra, 2008; Schmidt, 2022; Unger-Rudroff, 2020) lediglich aufgelistet werden. Die Autorin begründet diese kursorische Behandlung des Forschungsstands damit, dass es an Studien mangelt, „in denen konkrete Koordinationsprozesse beim Tanzen oder Bewegen zur Musik empirisch rekonstruiert, in ihrer multimodalen Komplexität auf Mikroebene abgebildet und daraus förderliche oder hinderliche Faktoren für solche musik- und bewegungsbezogenen Prozesse abgeleitet werden“ (S. 63). Dennoch wäre eine detailliertere Auseinandersetzung mit den vorhandenen Studien, mit denen die vorliegende Untersuchung eine inhaltliche Verbindung aufweist, hilfreich gewesen. Dadurch hätte die Autorin nicht nur die Relevanz und Spezifität ihrer Studie noch besser herausstellen können, sondern es wäre auch leichter, die Ergebnisse und Erkenntnisse aus dieser Untersuchung in den Fachdiskurs einzuordnen.
Schließlich, ausgehend von den vorangegangenen theoretischen Überlegungen, konkretisiert Wilke ihre Forschungsfragen wie folgt: (1) „Wie können Koordinationsprozesse als räumlich-zeitliches Phänomen im Rahmen einer Intervention mit ,Musik und Bewegung‘ ermittelt und definiert werden? Welche Koordinationsprozesse werden für die Analysen betrachtet?“; (2) „Wie sind die auftretenden Koordinationsprozesse auf simultaner und sequenzieller Ebene aufgebaut und welche Akteure oder Aktanten sind involviert?“; (3) „Wie lassen sich die Koordinationsprozesse im Rahmen eines Vergleichs theoriebezogen systematisieren und welche förderliche [sic!] und hinderliche [sic!] Faktoren lassen sich in den Sequenzen identifizieren?“ (S. 64). Während sich die erste Forschungsfrage auf die Forschungsmethodik bezieht, konturieren die beiden anderen Forschungsfragen den inhaltlichen Fokus von Wilkes Arbeit: Die Untersuchung von „Abstimmungsprozesse[n] und das sich-Koordinieren bei erklingender Musik“ (S. 63). Wilkes Ausführungen im Theorieteil sind insgesamt gut nachvollziehbar, die theoretischen Bezugnahmen erscheinen dem Gegenstand angemessen und bilden somit eine tragfähige Grundlage für die Untersuchung.

2. Wie können Koordinationsprozesse ermittelt werden?

Im empirischen Teil legt Julia Wilke ihr forschungsmethodisches Vorgehen dar. Die Intervention wurde an einer Grundschule als ein freiwilliges Einzelprojekt über einen Zeitraum von zwölf Wochen außerhalb der regulären Schulzeiten in einem Eins-zu-Eins-Setting durchgeführt. Für die Teilnahme an der Studie wurden drei Jungen im vierten Schuljahr ausgewählt. Die Entscheidung, Teilnehmende aus dieser Altersgruppe zu rekrutieren, begründet die Autorin damit, dass aus entwicklungspsychologischer Sicht Kinder in diesem Alter bei Ganzkörperbewegungen „voraussichtlich in der Lage sind, mehrere Dimensionen der Musik miteinander zu koordinieren, Repräsentationen von der Musik zu entwickeln sowie abstraktere Parameter, wie die Form eines Musikbeispiels oder ein Schema, als möglichen Koordinationsanlass aufzunehmen“ (S. 66). Die konkrete Auswahl der Studienteilnehmenden erfolgte durch den Musiklehrenden, wobei in einer bewussten und absichtsvollen Fallauswahl drei Jungen ausgewählt wurden, die eher wenig Erfahrung mit Tanz und Bewegung (zur Musik) mitbrachten und die nach Angabe der Lehrenden durch bestimmte Verhaltensweisen im Unterricht auffielen.
Die drei Jungen werden dann vorgestellt und ihre charakteristischen Verhaltensweisen beschrieben. Danach folgt die detaillierte Beschreibung der Intervention: Von der Planung des zwölfwöchigen Bewegungsprogramms über die inhaltlichen Schwerpunkte und spezifischen Aufgaben der einzelnen Stunden bis zur Musikauswahl. Auch die Gründe für die Entscheidung, Videos als primäre Datenquelle zu verwenden, werden plausibel dargelegt. Da diese Untersuchung darauf abzielt, Koordinationsprozesse sowohl zur Musik als auch zwischen den Akteur*innen in einem musikpädagogischen Kontext zu ermitteln und zu rekonstruieren, bieten videografische Aufzeichnungen die beste Möglichkeit, diese Prozesse zu erfassen. Videoaufnahmen halten Hörbares und Sichtbares gleichzeitig und im Zusammenhang fest, wodurch die verschiedenen Koordinationsprozesse in ihrer Multimodalität (d. h. auch in Bezug auf die Mimik, Gestik, Körpersprache und -haltung, Positionierung, Sprache, aber auch in Bezug auf die erklingende Musik) sowohl auf der simultanen als auch auf der sequenziellen Ebene beobachtet und nachgezeichnet werden können. Am Ende ihrer Ausführungen in Bezug auf den Erhebungskontext und die Erhebungsmethodik gibt Julia Wilke einen wichtigen Einblick in die praktische Umsetzung ihres Forschungsvorhabens, indem sie ihre Überlegungen zur Organisation der Videoaufnahmen (Anzahl und Positionierung der Kameras, Perspektiven) detailliert beschreibt.
Anschließend stellt die Autorin ihr methodisches Vorgehen bei der Aufbereitung, Analyse und Auswertung des Datenmaterials vor. Für die Analyse der Videos wählte Wilke einen interaktionsanalytischen Ansatz, wobei sie die Methode der Segmentierungsanalyse anwendete (Herrle & Dinkelaker, 2016). Im ersten Schritt wurden die Daten makroanalytisch segmentiert, um zeitlich stabile, übergeordnete Interaktions- bzw. Bewegungsmuster zu identifizieren. Es wurden drei Muster ermittelt: (1) selbst-referenzielle Bewegungen (die Aufmerksamkeit der Akteur*innen ist ausschließlich auf das Ausführen und Gestalten von Bewegungen gerichtet), (2) funktionelle Bewegungen (Bewegungen zu einem übergeordneten Zweck ausgeführt, z. B. zur Musik etwas malen, Rätsel lösen) und (3) kaum bzw. wenig Bewegungen (auf dem Boden liegen oder sitzen). Im Hinblick auf die Beantwortung der Forschungsfragen wurden für die weitere Arbeit mit den Daten die Segmente des Musters „selbst-referenzielle Bewegungen“ ausgewählt, da diese „vielfältige Möglichkeiten der Untersuchung von Koordinationsprozessen im Kontext von ,Musik und Bewegung‘ im situativen Vollzug“ (S. 91) bieten. Im letzten Schritt wurden ausgewählte Sequenzen mikroanalytisch betrachtet und rekonstruiert, wobei die Methode der multimodalen Interaktionsanalyse nach Schmitt (2015) angewandt wurde. Die Beschreibung des Forschungsverlaufs ist transparent und in Bezug auf die Forschungsfragen erscheint Wilkes Vorgehensweise als stimmig und kohärent.
Am Ende des Methodenteils legt Julia Wilke ihr Selbstverständnis als Forscherin und die Gütekriterien dar, an denen sie sich in ihrer Arbeit orientierte. Obwohl sie die „Problematik“ (S. 100) und die Herausforderung anerkennt, die durch ihre unterschiedlichen Rollen und Beteiligung im Rahmen der Untersuchung entstanden (sie hat die Intervention geplant, durchgeführt und beforscht) und die Schritte nennt, die sie unternommen hat, um ihren Einfluss zu balancieren (Dokumentation der Arbeitsschritte, zweite Raterin, kollegialer Austausch), bleiben ihre Ausführungen hier eher summarisch. Im Sinne der Transparenz und der Reflexivität wäre es an dieser Stelle wünschenswert, sich nicht nur mit dem konstitutiven Anteil bei der Datengewinnung und dem Einfluss, den sie in ihrer aktiven Rolle als Musikpädagogin auf den Verlauf der aufgezeichneten Stunden möglicherweise ausgeübt hat, (selbst)kritisch und reflexiv auseinanderzusetzen, sondern auch damit, wie ihre eigene Positionierung und Beteiligung auf die Interpretation der Daten eingewirkt haben könnten und wie sie damit umgegangen ist (siehe dazu Berger, 2013; Bergmann, 2011; Strübing et al., 2018).

3. Koordinationsprozesse beim Bewegen zur Musik: Fallbeispiele

Im nächsten Kapitel präsentiert Julia Wilke ihre Ergebnisse in Bezug auf die Forschungsfragen, die den inhaltlichen Fokus der Arbeit darstellen. Sie stellt zunächst elf ausgewählte Sequenzen vor, in denen sie verschiedene Koordinationsprozesse in deren simultanen sowie sequenziellen Verläufen rekonstruiert (Forschungsfrage: „Wie sind die auftretenden Koordinationsprozesse auf simultaner und sequenzieller Ebene aufgebaut und welche Akteure oder Aktanten sind involviert?“). Die Vorstellung der Sequenzen oder „Fälle“ beginnt jeweils mit einer kurzen Situationsbeschreibung (Teilnehmende, Stundenabschnitt, Übung bzw. Aufgabe). Darauf folgend werden die Geschehnisse und die Aktivitäten der beteiligten Akteur*innen (meistens der teilnehmende Junge und die Forscherin, in einigen Fällen aber auch die der Kameraassistentin) detailliert nachgezeichnet. Die Beschreibungen sind klar und gut nachvollziehbar, nicht zuletzt durch Wilkes effektiven Einsatz von Frame-Comics bzw. Standbildreihen (Schmitt, 2016), was ihren Ausführungen nicht nur eine zusätzliche Schärfe verleiht, sondern auch ihre Datenbezogenheit demonstriert. Die Vorstellung der Sequenzen wird jeweils mit einer theoriegeleiteten Zusammenfassung und Interpretation („Zwischenergebnisse“) abgerundet.
Im Ganzen illustrieren die elf Fallbeispiele anschaulich die Vielfalt, Komplexität und dynamische Natur von Koordinationsprozessen. Es werden Fälle präsentiert, bei denen sich die beobachteten Koordinationsprozesse auf bestimmte Parameter der erklingenden Musik bezogen haben (z. B. Metrum, Melodieverlauf, Rhythmus oder Form). Neben diesen, in gewisser Hinsicht „erwartbaren“ Koordinationsformen gelingt es Wilke aber auch, solche Koordinationsprozesse sichtbar zu machen, die weniger offensichtlich sind. In ihren Analysen erfasst und rekonstruiert sie Momente bzw. Sequenzen, in denen die Bewegungen der Jungen zwar auf die erklingende Musik angepasst bzw. durch diese veranlasst sind, aber mit extramusikalischen Bedeutungszuweisungen (z. B. um Kraft und Stärke auszudrücken bzw. darzustellen) oder mit Assoziationen oder Erfahrungen aus der Lebenswelt der Jungen verknüpft sind (z. B. „Dab“-Bewegung, Karate oder Breakdance-Bewegungen). Laut Wilke ist in diesen Fällen die Koordination „nicht zwingend abhängig von der gewählten Musik, sondern scheint eher der Anlass zur Bewegung zu sein“ (S. 148). In anderen Fällen wurden Formen der Objektkoordination sichtbar (z. B. zu einer Linie am Boden, zu einem Schuh oder zu einer Feder). Besonders interessant sind die Sequenzen, in denen Wilke Koordinationsprozesse auf interpersoneller Ebene (Inter-Koordination) erfasst. Sie zeichnet dabei nicht nur den Aufbau und den Verlauf von bewusst gestalteten, bidirektionalen Koordinationsprozessen zwischen den Akteur*innen (z. B. durch Nachahmung und Spiegelung) nuancenreich nach, sondern macht auch solche Koordinationsprozesse sichtbar, die intuitiv, ohne Absprache oder Blickkontakt, zustande gekommen sind.
Nach der Vorstellung der elf ausgewählten Sequenzen systematisiert Wilke die beobachteten Koordinationsprozesse in Bezug auf deren Simultaneität und Komplexität anhand eines Kategoriensystems, das sie aus der Dynamic Skill Theory (Fischer, 1980) ableitet (Forschungsfrage: „Wie lassen sich die Koordinationsprozesse im Rahmen eines Vergleichs theoriebezogen systematisieren und welche förderliche [sic!] und hinderliche [sic!] Faktoren lassen sich in den Sequenzen identifizieren?“). In die Kategorie „single sets“ ordnet sie Koordinationsprozesse ein, in denen sich die Teilnehmenden mit einem „Set“, das heißt mit einem Aspekt oder Parameter der Musik, mit einem Objekt oder mit der Forscherin koordiniert haben. Mit der Kategorie „Mappings I“ bezeichnet sie Fälle, in denen die Jungen sich mit mehr als einem „Set“ koordiniert haben, das heißt in denen zwei Koordinationsprozesse gleichzeitig realisiert wurden (z. B. Koordination zur Musik und zu den Bewegungen der Forscherin, Koordination zu einem Objekt und einem musikalischen Parameter). Die Kategorie „Mappings II“ umfasst solche Koordinationsprozesse, in denen mindestens zwei verschiedene (musikalische) Aspekte mit einbezogen wurden. Schließlich bezeichnet Wilke mit der Kategorie „System“ solche Sequenzen, in denen sich komplexe Koordinationsprozesse ereignet haben, zum Beispiel wenn der Junge sich mit zwei musikalischen Parametern und mit zwei Bewegungen der Forscherin koordiniert hat. Diese Systematisierung erscheint sinnvoll, da sie einen übergeordneten Rahmen bietet, in den die (in dieser Untersuchung erfassten) Koordinationsprozesse eingeordnet werden können. Darüber hinaus gelingt es Wilke, mit dieser Systematisierung ein nützliches Framework zu präsentieren, das nicht nur für die Praxis (z. B. bei der Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht), sondern auch für weitere Forschungen und Überlegungen in Bezug auf musik- und bewegungsbezogene Koordinationsprozesse hilfreich sein kann.
Im Anschluss an diese Systematisierung auf simultaner Ebene richtet Julia Wilke ihren Blick auf den Auf- und Abbau von Koordinationsprozessen auf der sequenziellen Ebene, um förderliche und hinderliche Faktoren für Koordinationsprozesse auszuarbeiten. Die Ausführungen der Autorin diesbezüglich heben erneut die entscheidende Rolle der Lehrenden hervor. Ob Koordinationsprozesse ermöglicht oder verhindert werden, hängt sehr stark davon ab, wie der Unterricht geplant, vorbereitet und durchgeführt wird. Durch die Musikauswahl, die Komplexität der Aufgaben oder die eingesetzten Objekte können Lehrende Koordinationsprozesse fördern (oder eben verhindern). Zudem scheint auch die zwischenmenschliche Beziehung der Akteur*innen wichtig zu sein. Durch ihr pädagogisches Handeln und durch (verbale und non-verbale) Kommunikation können Lehrende eine entspannte und vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre schaffen, die unterschiedliche Koordinationsprozesse (Koordination zur Musik, zu Objekten, Inter-Koordination) ermöglichen und fördern.
Der Ergebnisteil ist insgesamt gut lesbar und logisch aufgebaut. Mit den Fallbeispielen zeigt Julia Wilke zunächst die Vielfalt, Komplexität und Situationsabhängigkeit von Koordinationsprozessen, wobei sie die ausgewählten Sequenzen nach einer detaillierten und anschaulichen Rekonstruktion auch theoriebasiert interpretiert bzw. diskutiert („Zwischenergebnisse“). Dadurch gelingt es ihr, ihre komplexe Analyse auf eine gut nachvollziehbare (und lesefreundliche) Art und Weise zu präsentieren. Während die Fälle einzelne Situationen und Prozesse beschreiben, die eigentlich auch für sich stehen könnten, werden sie durch Wilkes Systematisierung in einen übergeordneten Rahmen eingeordnet. Die Autorin schafft es dadurch, ihre Ergebnisse auf eine abstraktere Ebene zu heben und die erfassten Koordinationsprozesse aus ihrer Situationsgebundenheit zu lösen. Dieses „Zooming-out“ ermöglicht Wilke nicht nur eine überzeugende theoretische Perspektivierung ihrer Beobachtungen, sondern es begünstigt auch die Herausarbeitung von (situationsübergreifenden) koordinationsförderlichen bzw. -hinderlichen Faktoren. Somit gelingt es Julia Wilke, mit ihrer Arbeit sowohl für den musikpädagogischen Fachdiskurs als auch für die Praxis interessante Impulse zu geben.

4. Fazit

Mit ihrer Dissertation leistet Julia Wilke einen wertvollen Beitrag zum musikpädagogischen Fachdiskurs. Durch die Fokussierung auf körperlich-sinnliche Lern- und Koordinationsprozesse durch und zur Musik knüpft ihre Untersuchung an musikpädagogische Arbeiten an, die Bewegung und Körperlichkeit als Grunddimension des Musiklernens betrachten (Rüdiger, 2018; Berg, 2018; Gruhn, 2016; Spahn, 2017; Unger-Rudroff, 2020; Waldenfels, 2017). Die Arbeit bietet zudem eine neue Perspektive in Bezug auf die Erforschung von Koordinationsprozessen in musikpädagogischen Kontexten. Während Hellberg (2019) und Schmidt (2022) Koordinationsprozesse beim Musizieren in Gruppenunterrichts- und Ensemble-Settings untersucht haben, betrachtet und rekonstruiert Wilke die „Abstimmungsprozesse und das sich-Koordinieren bei erklingender Musik“ (S. 63) mit Grundschulkindern in einem Eins-zu-Eins-Setting. Ihre Analysen bieten wichtige Einsichten in Bezug auf Prozesse der Bewegungskoordination (zur Musik, aber auch in Form von Inter-Koordination) sowie deren Gelingensbedingungen und verdeutlichen nicht nur die Vielfalt und Komplexität von Koordinationsprozessen, sondern auch deren Situationsgebundenheit bzw. -bezogenheit sowie Fragilität. Wilkes Erkenntnisse und Ausführungen können daher für Leser*innen, die in musikpädagogischen Kontexten mit Musik und Bewegung arbeiten, wichtige Anhaltspunkte bieten, die sowohl bei der Planung, als auch bei der Reflexion von Unterricht von Bedeutung sein können. Die Systematisierung könnte zum Beispiel ein hilfreiches Tool darstellen, um die Schwierigkeit und Komplexität von Aufgaben und die damit einhergehenden Koordinationsprozesse einzuschätzen. Nicht zuletzt kann Wilkes Buch durch die transparenten und detaillierten Erläuterungen in Bezug auf die Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse auch für Forscher*innen, die mit Videos arbeiten, eine aufschlussreiche und gewinnbringende Lektüre sein.
Da diese Studie in einem Einzelsetting durchgeführt wurde, könnten zukünftige Forschungsarbeiten im Bereich „Musik und Bewegung“ die Entwicklung und den Vollzug von Koordinationsprozessen in Gruppensettings bzw. mit mehreren Kindern untersuchen. Würde die Lehrperson immer noch so eine wichtige und einflussreiche Rolle spielen? Oder würden sich die Kinder eher mit- bzw. zueinander koordinieren? Eine andere interessante Forschungsperspektive wäre zudem die Untersuchung von koordinativen Abstimmungsprozessen zwischen musizierenden und tanzenden Personen.

Literatur
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Timea Sari
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
Wettiner Platz 13
01067 Dresden
Deutschland
E-Mail: timea.sari@mailbox.hfmdd.de

Forschungsschwerpunkte: Instrumental- und Gesangspädagogik, musikpädagogische Psychologie, Motivation, Üben, Vermittlung von Lern- und Übestrategien im Instrumentalunterricht, Beziehung und Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden