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Ito, Ayako

Blick nach Westen

Musikverständnis und musikalische Schulbildung in Japan

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2024 , Seite 06

Bildungskonzepte sind in politische und kulturhistorische Prozesse eingebettet und schreiten mit ihnen gemeinsam voran. Wie verhalten sich dabei westliche und japanisch-traditionelle Musiken zueinander? Wie entstanden dabei die heutigen Hörgewohnheiten bzw. wie wurden sie geschaffen? Eine Skizze zur Musikausbildung Japans vor ihren kulturhistorischen Hintergründen.

Die westliche „klassische“ Musik etablierte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Japan. Dies ist auf die gewaltigen Umwälzungen der Meiji-Zeit (1868-1912) zurückzuführen, in der alle denkbaren Bereiche in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kultur und alltäglichen Belangen einer abrupten Reform ausgesetzt wurden.1 Bei diesem von der Regierung oktroyierten nationalen Großprojekt ging es nicht nur um die Einführung westlicher Waren, sondern auch um geistige Güter wie Philosophie, Erziehung oder eben Musik. Diese frappante Modernisierung bewirkte in der japanischen Musikkultur, dass sich die Hörgewohnheiten quasi im Handumdrehen veränderten.2

Verwestlichung des Musikverständnisses

Sehr einflussreich war der Beitrag des neuen schulischen Musikunterrichts sho¯ka, der an der Grundschule als einfacher Singunterricht einsetzte. Tatsächlich hätte wohl kaum etwas anderes so dazu beitragen können, flächendeckend das bis dato in Japan unbekannte westliche Musikverständnis zu verbreiten. Die Konzeption und Entwicklung des Fachs lag in den Händen des Pädagogen Shu¯ji Isawa (1851-1917), der auch die Musikforschungsstelle (japanisch: Ongaku Torishirabegakari), eingerichtet 1879, leitete. Zu wissenschaftlichen Zwecken ins Ausland entsandt, studierte Isawa von 1875 bis 1878 in den USA die dortige Didaktik und Methodik als Anregung für die neue japanische Schulpädagogik.
In den 1880er Jahren veröffentliche die Musikforschungsstelle die dreibändige Liedersammlung für die Grundschule (1881, 1883, 1884)3 als Lehrmaterial für den Musikunterricht. Sie waren in westlicher Notation, aber mit japanischer Schreibung gestaltet. Viele westliche Melodien wurden in diese Sammlungen aufgenommen, sind aber mit einem neuen japanischen Text unterlegt. Dort finden sich auch bekannte deutsche Kinderlieder wie etwa Hänschen klein (Abb. 1 auf der folgenden Doppelseite), Winter ade und Alle Vögel sind schon da (Abb. 2). Diese Importe gelangten allerdings nicht direkt aus Deutschland nach Japan, sondern auf einem Umweg über die USA. Der US-amerikanische Musikpädagoge Luther Whiting Mason (1818-1896), den Isawa während seines USA-Aufenthalts kennengelernt hatte, wurde für den Aufbau des neuen Schulfachs nach Japan an die Musikforschungsstelle berufen. Deutsches Liedgut wurde aus den von Mason herausge­gebenen englischen Lehrbüchern übernommen,4 wohin es wiederum aus dem Lehrbuch Praktischer Lehrgang für den Gesang-Unterricht in Volksschulen5 von Chris­tian Heinrich Hohmann (1811-1861) gelangt war. Hohmanns Lehrbuch hatte Mason aus eigenem Interesse extra ins Englische übersetzen lassen.6
Wie solche Prozesse zeigen, wurden in dieser Anfangszeit zahlreiche westliche Erziehungsideen nach Japan übertragen. So hinterließ zum Beispiel auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) in Bezug auf seine Erziehungsideale und seine „Elementarmethode“ der Tonlehre indirekt tiefe Spuren in der japanischen Musikerziehung.7 Auch Isawa begann bereits im Jahr 1874, noch vor seinem USA-Aufenthalt, in der japanischen Kindergartenerziehung das „Singende Kreis- und Bewegungsspiel [sh¯oka yu¯gi]“ einzuführen, welches er nach dem Vorbild der Lehren Friedrich Fröbels (1782-1852) gestaltete.8 Mit der Übernahme der westlichen Instrumente war es folgerichtig, dass auch in der Instrumentallehre westliche Lehrmaterialien verwendet wurden. Ein gutes Beispiel dafür ist die in Japan bis heute populäre Klavierschule Baieru, in japanischer Transkription benannt nach ihrem Autor Ferdinand Beyer (1806-1863).9 Die ursprüngliche Ausgabe dieses Werks war die Vorschule im Klavierspiel für Schüler des zartesten Alters, die bei Schott im Jahr 1850 veröffentlicht worden war.10 Als Mason in Japan sein Amt an der Musikforschungsstelle antrat, wurde die amerikanische Fassung dieser Klavierschule auch in Japan verbreitet, da Mason selbst mit ihr unterrichtete.11 Da damals die Musikforschungsstelle auch als Ausbildungsinstitut für die neue Generation von Musiklehrkräften fungierte, etablierte sich die Schule Beyers bzw. Baierus fest in der Tradition des japanischen Klavierunterrichts, während sie in Deutschland kaum noch verwendet wird.

Wiederherstellung japanischer Stärke

Die Einführung westlicher (Kultur-)Güter erscheint oft überhastet und in ihrem Eklektizismus willkürlich. Wenn auch vieles in der Rückschau eher zufällig nach Japan gelangte, ist doch die Absicht der Meiji-Regierung zu erkennen, bei der Auswahl, Veränderung und Anpassung des aus dem Ausland Übernommenen die japanischen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Auch die Musikforschungsstelle zielte bei ihrer begierigen Wissensaneignung nicht auf eine blinde Kopie westlicher Musikkulturen ab. Das theoretisch formulierte Fernziel war die Erschaffung einer neuen, eigenständigen japanischen Musik unter Zuhilfenahme westlicher Musikinstrumente.
Wie die ganze Meiji-Reform staatsideologisch auf eine Stärkung Japans gegenüber den westlichen Kolonialmächten abzielte, so wurden auch die Musikkulturen im Sinne eines Gleichziehens, ja Übertreffens der Vorbilder übernommen, um das Gesicht Japans durch eine umfassende Modernisierung zu wahren bzw. nach den Schwächen der vorangehenden Periode wiederherzustellen. So blieb auch die Musikreform auffallend selektiv. Das in den bürgerlichen Ständen tradierte Musikgenre zokkyoku wurde nun als vulgär gedeutet und sollte aus der modernisierten Musikkultur verdrängt werden.12 Dem zokk­yoku stellte man das gagaku gegenüber, eine speziell am kaiserlichen Hof tradierte Musikform, die weder in ihren Formen noch in den Instrumenten angetastet wurde und so ohne Veränderungen erhalten blieb.13
In der Gegenwart werden diese traditionellen japanischen Musiken14 im schulischen Musikunterricht zusammen mit westlich konnotierten Musikstilen und Musiken aus diversen globalen Kulturen behandelt. Allerdings ist es nicht selten der Fall, dass die traditionelle Musik auch von JapanerInnen als fremd empfunden wird. Es ist heute nicht mehr möglich, japanische traditionelle oder westliche Musik pauschal als „eigene“ oder „fremde“ Musik wahrzunehmen, da auch ehemalige Mischformen wie z. B. J-Pop15 längst auf eine eigene Tradition und Weiterentwicklung zurückblicken können.

1 zu den Reformen im Bildungsbereich siehe Schubert, Volker: Pädagogik als vergleichende Kulturwissenschaft. Erziehung und Bildung in Japan, Wiesbaden 2005, S. 91-104.
2 siehe dazu Menzel, Stefan: Ho¯gaku. Traditionelle ­japanische Musik im 20. Jahrhundert (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 87), Hildesheim 2015, S. 47-54.
3 Monbush¯o ongaku torishirabe gakari (Hg.): Sho¯gaku sho¯kash¯u shohen [Liedersammlung für die Grundschule 1], 1881, https://dl.ndl.go.jp/pid/992051 (Stand: 14.1.2024); Sho¯gaku sho¯kash¯u dai 2 hen [Liedersammlung für die Grundschule 2], 1883, https://dl.ndl.go.jp/ pid/992052 (Stand: 22.4.2024); Sho¯gaku sho¯kash¯u dai 3 hen [Liedersammlung für die Grundschule 3], 1884, https://dl.ndl.go.jp/pid/992053 (Stand: 22.4.2024).
4 Sakurai, Masato: „Japanese Schoolsongs from Abroad in Shoogaku Shookashuu Part 1“, in: Cultura philologica, 41. Jg., 2004, S. 3-17, http://doi.org/10.15057/15496 (Stand: 14.01.2024). Die Lehrbücher Masons sind: National Music Charts, for the Use of Singing Classes, Seminaries, Conservatories, Schools and Families (1872), A Preparatory Course and Key to the Second Series ­Music Charts, and Second Music Reader (1873). Anmerkung zu diesen Lehrbüchern siehe Ito, Ayako: Die Suzuki-Methode und ihre Genese. Fallstudie zu einem musikpädagogischen Transkulturationsprozess, Siegen 2021, S. 92, Anm. 112.
5 Die Erstausgabe erfolgte ab dem Jahr 1838, vgl. Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung, Hofheim 22003, S. 86.
6 Hayakawa, Junko: „Die Rezeption deutscher Lieder in Japan. Betrachtung einiger Beispiele der Textübertragung“, in: Grosch, Nils/Widmaier, Tobias (Hg.): Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture 55, Münster 2010, S. 183-198, hier: S. 185 f., www.jstor.org/stable/ 23338981 (Stand: 14.1.2024).
7 vgl. Hokazono, Yasuko (1970): „Meiji jidai ni okeru sho¯ka kyo¯zai no seikaku: ‚sho¯gaku sho¯kash¯u‘ ‚sho¯gaku sho¯ka‘ [Das Wesen der sho¯ka-Materialien in der Meiji-Zeit: ‚sho¯gaku sho¯kash¯u‘ ‚sho¯gaku sho¯ka‘]“, in: Journal of Educational Research, 3.4, 1970, S. 63-83, hier: S. 63 f., https://ci.nii.ac.jp/naid/110009898974 (Stand: 14.1.2024); Ito, Die Suzuki-Methode und ihre Genese, S. 95 f.; zur Rezeptionsgeschichte Pestalozzi’scher Lehre in Japan siehe Ito, Toshiko: Die Kategorie der Anschauung in der Pädagogik Pestalozzis. Theorie und ­Rezeption im Japan des 19. Jahrhunderts, Bern 1995, S. 91-168.
8 vgl. Yamashita, Kyo¯ko: „On Songs in Meiji era and Taisho era: The Influence of Songs in Kindergarten“, in: Research bulletin of Saga Women’s Junior College, 43. Jg., 2010, S. 61-70, hier: S. 64 f., https://dl.ndl.go.jp/ view/prepareDownload?itemId=info%3Andljp%2Fpid%2F11037807&contentNo=1 (Stand: 14.1.2024); Okunaka, Yasuto: Kokka to ongaku: Isawa Shu¯ji ga mezashita nihonkindai [Der Staat und die Musik: Das moderne ­Japan nach Shu¯ji Isawas Vorstellungen], Tokyo 2008, S. 106-117.
9 1803 als oft angegebenes Geburtsjahr Beyers ist widerlegt. Das korrekte Geburtsjahr 1806 wurde im Kirchenbuch zu Querfurt während der aufwändigen Recherche Hiroshi Yasudas zu diesem Thema nachgewiesen: vgl. Yasuda, Hiroshi: Baieru no nazo: Nihonbunka ni natta piano kyo¯sokuhon [Das Rätsel um Baieru: Die Klavierschule, die zu japanischer Kultur wurde], Tokyo 2012, S. 218-227.

10 vgl. ebd., S. 58; Yasuda, Hiroshi/Ono, Ryosuke/Tada, Junichi/Nagao, Chie: „Baieru“ Genten Tanbo¯. Shirarezaru jihitsufu, shohanfu no shoso¯ [Die Suche nach dem Original des „Baieru“. Die Form der unbekannten Notenhandschrift und der Erstausgabe], Tokyo 2016, S. 87.
11 vgl. Yasuda, Baieru no nazo, S. 39-52.
12 zur Reform des zokkyoku siehe Menzel, S. 32-42.
13 vgl. Ito, Die Suzuki-Methode und ihre Genese, S. 85-102.
14 siehe dazu Clausen, Bernd: Der Hase im Mond. Studie zu japanischer Musik im japanischen Musikunterricht (= Musikpädagogische Beiträge, Bd. 8), Berlin/ Münster 2009.
15 J-Pop ist ein Musikgenre, das in Japan viel konsumiert wird. Es ähnelt westlicher Pop-Musik mit japanischen Texten mit vergleichbaren Themen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2024.