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Behrens, Gesa

Vor lauter Bäumen…

Mustererkennung beim Erfassen von Musik und Notentext

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2024 , Seite 27

InstrumentalschülerInnen erreichen die höchste Spielmotivation ­oftmals dann, wenn der Notentext des zu übenden Stücks bereits erfasst ist. Die Aufgabe von Lehrkräften ist es, den Weg dorthin so zu ­erleichtern, dass schon während des Erfassens die Faszination der SchülerInnen geweckt wird, das „Rätsel des Notentextes“ zu entschlüsseln.

Eine hilfreiche Fähigkeit für das schnelle Erfassen und Merken von Musik und Notentexten ist das Bilden und Erkennen sogenannter Chunks.1 Von der großen Menge der von unseren Sinnesorganen aufgenommenen Informationen gelangt nur ein kleiner Teil ins Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis, welches eine begrenzte Kapazität hat und Informationen nur für eine kurze Dauer speichert.2 Unter optimalen Bedingungen stehen fünf bis neun Einzelinformationen in diesem Gedächtnis, welches unsere subjektive Gegenwart abbildet, zur Verfügung.3 Um diese recht kleine Menge zu erweitern, können Informationen zu größeren Einheiten oder Mustern (= Chunks) gebündelt werden.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Lesen Sie bitte folgende Buchstabenabfolge und versuchen Sie, so viele Buchstaben wie möglich in derselben Reihenfolge wiederzugeben:

L B I W D S N E E R I A I E P S I E
(18 Informationen)

Versuchen Sie es jetzt noch einmal:

DIES WAR EIN BEISPIEL
(vier Informationen)

Im zweiten Fall sollten Sie problemlos in der Lage sein, alle Buchstaben sowie ihre Reihenfolge wiederzugeben. Dies ist möglich, da die Buchstabenkombinationen bereits im Langzeitgedächtnis als Wörter gespeichert sind, daher wiedererkannt und zu sinnvollen Chunks gebündelt werden.4
Auch im musikalischen Kontext ist für das schnelle Erfassen von Musik und Notentext das Erkennen und Bilden von Chunks erforderlich. Flüssiges Prima-Vista-Spiel ist nur möglich, wenn die zu verarbeitende Informationsmenge durch Bündelung verringert wird.5 Die Organisation des Lernstoffs zu Einheiten hilft zudem beim Auswendiglernen von Musikstücken.6 Auf auditiver Ebene hilft Musterbildung, um sich Melodien zu merken.7 Darüber hinaus ist die Mustererkennung nützlich für die Wahrnehmung und Interpretation eines Musikstücks. Denn unzusammenhängende Einzelinformationen haben selten einen hohen Bedeutungswert. Erst beim Bündeln dieser Informationen zu größeren Gestalten erschließt sich ein Sinnzusammenhang.

Flüssiges Prima-Vista-Spiel ist nur möglich, wenn die  Informationsmenge durch Bündelung verringert wird.

Als Beispiel seien hier nacheinander erklingende Töne genannt, welche als Einzelinformationen wenig Gehalt haben, gemeinsam aber ein melodisches Motiv mit Bedeutung ergeben. Auch kann das Trainieren von häufig wiederkehrenden Grundmustern in Kompositionen zu einer Hörerwartung führen. Wird das Muster dann unerwarteterweise verändert, führt dies zu einer Überraschung beim Hörenden und bietet die Grundlage für die weitere Interpretation des Gehörten.

1 In der deutschsprachigen Literatur wird manchmal auch der Begriff Superzeichen verwendet.
2 vgl. Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis, Mainz 32009, S. 41.
3 vgl. Kintsch, Walter: Gedächtnis und Kognition, Heidelberg 1982, S. 171.
4 vgl. Chaffin, Roger: „Expert Memory“, in: Chaffin, Roger/Crawford, Mary/Imreh, Gabriela: Practicing Perfec­tion. Memory and Piano Performance, London 2002, S. 67.
5 vgl. Mantel, Gerhard: Einfach Üben. 185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten, Mainz 2010, S. 159.
6 vgl. Chaffin, S. 70 ff. 7 vgl. Klöppel, S. 52.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2024.