© Abed Husein

Greinetz, Anna

Musikbusiness zum Anfassen

Das BEAT-Projekt als niedrigschwelliges Angebot für musikbegeisterte Jugendliche

Rubrik: Musikvermittlung
erschienen in: üben & musizieren 3/2024 , Seite 40

Musik sollte jungen Menschen auch jenseits der gehobenen Bildungsschicht zugänglich sein. Dafür setzt sich das musikalische Jugendprojekt BEAT in Nordhessen ein. BEAT steht dabei für die Kernwerte des Projekts: Beteiligung, Erfahrung, Austausch und Team.

Richard Vaupel aus Kassel spielte früher leidenschaftlich Schlagzeug. Mittlerweile hat er die Drumsticks beiseite gelegt, aber er singt noch sehr gerne. Als er vom BEAT-Projekt in Kassel erfährt, freut er sich über ein niedrigschwellig zugängliches Format, um seinen Gesang zu professionalisieren und andere junge Musikbegeisterte kennenzulernen. Was er nicht wusste: Seine Freunde freuten sich noch mehr über Richards mutigen Schritt und meldeten ihn bei The Voice of Germany 2023 an. Richard stellte sich der Herausforderung und kam bei der Castingshow fast bis ins Halbfinale. Vor allem aber präsentierte er sich und seine Stimme öffentlich im Fernsehen, lernte deutschlandweit andere junge Talente kennen und sammelte Erfahrung mit echten Branchenprofis. Richard ist nun bei einer Agentur unter Vertrag und im Sommer 2024 für verschiedene Veranstaltungen gebucht. „BEAT war mein Eintritt in die Musikbranche“, sagt er.
Richard ist einer von vielen BEAT-Projektteilnehmenden, die durch kostenfreie Workshops nicht nur Einblicke in das Musikbusiness bekommen, sondern auch Selbstvertrauen in ihr teils zaghaftes Interesse an Musik bis zu dem Punkt gewinnen, dass sie sich anderen und schließlich auch der Öffentlichkeit präsentieren. Musikalische Bildung funktioniert hier über den Funken, der alles in Gang bringt: Leidenschaft. Musikalische und kulturelle Bildung soll handlungsorientiert und praxisnah erfolgen, so der Wunsch der BEAT-Projektinitiatorin Roberta Wagner. „Leistung und Können wird bei uns sehr praxisorientiert gefasst. Während ein besonderes Talent oder eine herausragende Leistung keine grundsätzliche Voraussetzung zur Teilnahme ist, müssen sich die Interessierten doch bei einer Audition vor einer fachkompetenten Jury präsentieren“, berichtet Wagner.

Sechs Monate, ein Ziel

Das BEAT-Projekt findet in sechsmonatigen Durchläufen statt, innerhalb derer junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren eine Art kostenlose Mini-Ausbildung für das Musikbusiness bekommen. In Workshops machen sie Musik, schreiben Songtexte und nehmen ihre eigenen Songs im professionellen Tonstudio auf. Sie beschäftigen sich zudem mit Musikvideodreh, Coverdesign, Künstleridentität, Marketing und veröffentlichen ihre erarbeiteten Songs auf populären Streamingplattformen. Darüber hinaus sammeln sie erste Bühnenerfahrung beim großen Abschlusskonzert in einem der modernsten Veranstaltungsräume, die Kassel zu bieten hat.
Das Projekt wird von 2022 bis Ende 2024 gefördert von der „Aktion Mensch“ und durchgeführt vom Sozialträger „Indimaj – Gesellschaft für Bildung & Soziales.“ „Bei Indimaj denken wir von der Gesellschaft aus“, berichtet Arras Marika, Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins. „Wir sind divers, vielfältig, integrativ, inklusiv und dabei – vielleicht auch dadurch – fachkompetent und erfolgreich“, hält er fest. Mit über 80 Angestellten und Honorarkräften ist Indimaj in der Familienhilfe, in der Kinder- und Jugendhilfe und in der Sozial­arbeit im Einsatz.

Bunte Gesellschaft

Seit Projektbeginn haben über 100 Interessierte an dem Musikprojekt teilgenommen. Pro Durchlauf starten rund 30 Teilnehmende aus unterschiedlichen Herkunfts­familien und Bedarfsgemeinschaften sowie mit diversen Hintergründen und Vorerfahrungen. So spielt die musikbegeisterte Kinderärztin Geige und singt mit teils neu angekommenen, teils alteingesessenen internationalen jungen Talenten Seite an Seite. Belgin Jordanov zeigt seinen Eltern, dass seine Texte und seine Stimme bei anderen gut ankommen. Alhassane Diallo sitzt im Rollstuhl und macht sich in seinen Songs für Gleichberechtigung stark. Gloria Schirmmacher singt mit ihm zusammen den empowernden Titel Love yourself, während Vladi Prelezov sich freut, auf der Bühne ein Outlet für sein extravagantes Showtalent zu haben. BEAT bildet ab, was in der Gesellschaft längst Realität ist: Internationalität, Inklusivität, Diversität.

Netzwerke bilden

Diese vielfältige Realität bilden auch die Coaches ab, die den Jugendlichen während der Workshops mit Rat und Tat zur Seite stehen. MusikpädagogInnen, BerufsmusikerInnen, Vocalcoaches, ProducerInnen, KulturmanagerInnen und MedienexpertInnen kommen zusammen, um jungen Menschen die Musikbranche näher zu bringen. „Der Vernetzungsgedanke wird bei uns großgeschrieben“, betont Wagner. So kommen junge Menschen stadtteil- und altersübergreifend in Kontakt mit anderen Musikbegeisterten sowie mit lokalen Branchenprofis und lernen noch dazu unterschiedliche Orte in Kassel kennen.
Mittlerweile ist ein aktives Netzwerk an lokalen und nationalen UnterstützerInnen gewachsen. Ein örtliches Lokal mit Livemusik lädt die BEATies mit zahlreichen Freikarten zu allen dort stattfindenden Konzerten ein, ein moderner New Work Space sponsert Räumlichkeiten für einen Medienworkshop, das Stadtteilzentrum im vermeintlichen Prob­lembezirk wird wöchentlich beschallt, andere Orte für Live Jams genutzt und vieles mehr. BEAT bringt Jugendliche ins Machen und gibt ihnen die Möglichkeit mitzubestimmen. So ist beispielsweise das Mik­roprojekt „Define your BEAT“ mit Unterstützung des Förderungs- und Hilfsfonds des Deutschen Komponist:innenverbandes auf den Wunsch der Jugendlichen hin entstanden. Hier erarbeiten sie elektronische Beats und Rhythmen unter professioneller Anleitung von berufstätigen Producern. Auch der BEAT-Club, in dem sich BEAT-Alumnis zum Musikmachen, Austauschen und Kollaborieren treffen, wurde von den Teilnehmenden initiiert.
„Um das Projekt bekannt zu machen, sind wir dabei anfangs mit Green Screens besonders in die Stadtteil- und Jugendzent­ren und Schulen gezogen, in denen wenig kulturelle Angebote für junge Menschen bestehen“, berichtet die sozialpädagogische BEAT-Mitarbeiterin und studierte Psychologin Jenny Vorsmann. Mittlerweile verbreite sich das Projekt überwiegend durch Onlinepräsenz und Mund-Propaganda. „Neben unseren bottom-up Bemühungen, jungen Menschen Zugang zu facettenreicher musikalischer Bildung zu bieten, erhoffen wir uns langfristig, Kassel als wichtigen Musikstandort auf die Karte zu bringen“, so Vorsmann.
Bezüglich Werbung und Außendarstellung setzt BEAT auf jung, modern und frisch. Online und Printauftritte gehen von der Zielgruppe aus und sind entsprechend gestaltet und geschrieben. Politisch besetzte Begriffe wie „Inklusivität“ oder „Vielfalt“ tauchen dabei nicht auf, stattdessen werden die Konzepte innerhalb der Projekt­arbeit aktiv gelebt. Nicht selten wird in den Workshops fließend von Englisch zu Deutsch, zu Spanisch, Türkisch oder Albanisch gewechselt, denn die Coaches bringen wie auch die Teilnehmenden unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Berührungspunkte mit. Letztlich greift die Sprache der Musik, genreübergreifend und über Begeisterung und Offenheit.

Vom Projekt zur Institution

Die Nachfrage nach niedrigschwellig zugänglichen Musikangeboten in Kassel sei hoch und das Angebot ausbaufähig, so Wagner. Hier möchte das BEAT-Team ansetzen und die gesammelten Projekterfahrungen in eine langfristig bestehende, wachsende Akademie überführen. Neben dem BEAT-Projekt sollen hier auch Professionalisierungsangebote bestehen und eine Heimat für Veranstaltungsorte, Tonstudios sowie Veranstaltungsagenturen geschaffen werden. Insbesondere in Nordhessen würde eine solche Akademie eine Marktlücke schließen. Sie würde mit dem kostenlosen Zugang zu musikalischer Bildung, dem Zugang zum Netzwerk und Kontakten zu Branchentätigen ein modellhaftes wie innovatives Konzept bieten, das auch für eine größere Altersspanne gedacht werden kann. Kooperationen mit anderen Musikbildungseinrichtungen, gemeinnützigen Trägern und Vereinen sowie der freien Wirtschaft sind im Sinne von BEAT bedeutsam und sinnvoll. Die Zielgruppenansprache sollte auf verschiedenen Ebenen stattfinden, denn nicht selten sind es die Eltern, Bezugspersonen oder die Jugendlichen selbst, die sich scheuen, an Musikeinrichtungen heranzutreten.
Derzeit werden noch Sponsoren gesucht, die das BEAT-Projekt dabei unterstützen, das Momentum aufzugreifen und jungen Menschen in Nordhessen und darüber hinaus eine Anlaufstelle zum Vernetzen, Ausprobieren, Professionalisieren und Wirken zu bieten. „Kassel braucht mehr und umfangreichere musikalische Angebote wie diese für die vielfältigen Talente unserer Stadt. Es ist zu schade, wenn musika­lische Kreative Kassel verlassen“, sagt Richard. Auch Lisanne Wiegand, Geschäftsführerin des Landesmusikrats Hessen, sieht für eine Akademie dieser Art Bedarf: „In Hessen ist die Popularmusik nicht so präsent und schon gar nicht im Landesmusikrat vernetzt, da gibt es also noch viel Aufholbedarf bei allen Seiten – auch und gerade bei uns“, so Wiegand.

Film zum Projekt BEAT:
https://mediathek-hessen.de/medienview_33049_Elisa-Gomera-OK-Kassel-BEAT-On-Stage.html

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