© Kuppel_Grosshauser

Kuppel, Reto / Tobias Grosshauser

Wo wirken welche Kräfte?

Die Sensorgeige liefert objektive Messergebnisse zu den ­Druckkräften beim Violinspiel

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 52

Die Möglichkeit zur Beurteilung der Kräfte, die bei der filigranen Tätigkeit des Violinspiels auf die Geige einwirken, ist häufig unkonkreter, als es scheinen mag. Moderne Technik bietet eine Hilfe. Die sogenannte Sensor­geige kann die auf das Instrument ausgeübte Druckkraft während des Spiels messen, ­bislang unsichtbare Geheimnisse der Violintechnik mit objektiven Daten ­enthüllen und wichtige didaktische Hinweise für das Lehren und Lernen liefern: in vielen violintechnischen Bereichen eine kleine Revolution!

Was beurteilt eine Violinlehrkraft beim Vortrag der SchülerInnen? Der erste Aspekt bezieht sich auf das optisch Wahrnehmbare: Wie wird das Instrument gehalten? Wie sind die Bewegungen des Bogens? Schon hier treten die ersten Grauzonen in der Beurteilung auf: Je nach Körperbau lässt sich nicht genau erkennen, ob sich das Maß der zum Spielen aufgewendeten Kraft im günstigen, im hemmenden oder gar im gesundheitlich schädlichen Bereich bewegt.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf das akustisch Wahrnehmbare. Auch hier ermöglichen Rückschlüsse vom Geigenklang auf die Art der Fingerbenutzung Korrekturen im Spielablauf. Wenn laut gespielt werden soll, muss man mehr mit dem Bogen drücken. Aber drücken dann auch die Finger der linken Hand mehr? Oder sogar der Kiefer auf den Kinnhalter? Und was, wenn man so laut spielen soll wie möglich?
Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Metaebene der Musik und besteht aus einer nicht genau zu definierenden Mischung aus Intuition, Kommunikation, Stilverständnis, Kompetenz und Selbstverständnis. Ist es egal, wie viel Kraft man verwendet: Hauptsache, es klingt gut? Warum hat ein Schüler Schmerzen, er spielt doch nach meiner Schule?
Die Konsequenz der ungenauen Beobachtungsmöglichkeiten: Violinlehrkräfte müssen hin und wieder eher raten, ob SchülerInnen tatsächlich zu viel oder zu wenig drücken oder ob das Problem woanders liegt! Jahrelange Unterrichtserfahrungen helfen dabei. Aber es bleiben offene Fragen.

Die Sensorgeige

Zur Untersuchung dieser Fragestellungen wurde im RE|LEVEL-Teilprojekt „Quantiforce PARTs“ an der Hochschule für Musik Nürnberg1 eine Sensorgeige entwickelt (Abb. 1), mit der die relevanten Parameter gemessen, optisch dargestellt und die gewonnenen Messdaten aufgenommen werden können. Dazu war es notwendig, Hightech in einem Streichinstrument zu verbauen, ohne dass es den Spielenden auffällt. Das bedarf geigenbaulicher Kreativität und eines Erfindungsreichtums in nicht primär geigenbauspezifischen Bereichen, die mit dem technikaffinen Geigenbaumeister Michael Betcher aus Nürnberg gewonnen werden konnten.
Aufgrund der Instandhaltung und Anpassung der Sensorik war es notwendig, den Hals mit Sensorgriffbrett leicht tauschen zu können. So hat Michael Betcher den Wechselhals erfunden, der durch eine Verschraubung zwischen Hals und Corpus kein Lösen und erneutes Verleimen des Halses erfordert und die Verwendung von verschiedenen Hals-/ Griffbrett-Kombinationen und der entsprechend integrierten Sensorik ermöglicht.
Die ins Instrument integrierte Sensorik und eine App zur Datenaufnahme (Abb. 2), Datenauswertung und Visualisierung bildet das von Tobias Grosshauser in den vergangenen Jahrzehnten zur Serienreife entwickelte und in seiner Manufaktur hergestellte App-Sensorsystem, das anwendungsspezifisch modular zusammengestellt wird. Die Sensoren und Controller-Module beruhen auf Forschungsarbeiten zur Messung von Bewegungen und Kräften und der auf machine-learning basierenden Analyse von Spieltechniken, Fingerposition und Fingerdruck der linken2 und rechten3 Hand beim Violinspiel. Im Projekt Quantiforce PARTs besteht das Setup aus einem Sensorgriffbrett zur Messung des Anpressdrucks der Finger und einem Kinnhalter zur Erfassung der Kiefer-Druckkräfte während des Spiels. Die in das Instrument integrierten, drahtlosen Miniatursensoren kommunizieren mit einer App, in der individualisierbare Anzeigen und Echzeit-Feedback eingestellt werden kann. Die verbaute Technik ist für SpielerInnen nicht spürbar und behindert den Bewegungsablauf nicht. – Abbildungen 1 und 2:

Die Anwendungsbereiche des modularen Sen­sorsystems sind vielfältig. Beispielsweise können komplexe Bewegungsabläufe in einzelne Bestandteile aufgeschlüsselt und die allfälligen Messungen im Unterricht, auf der Bühne oder beim Üben daheim vorgenommen werden. Und im Kontext der Sensomotorik, Musikermedizin und der Spiel- und Performanceanalyse können in Kombination mit Sensoren für Muskelaktivitäts-, Klang-, Bewegungs- und Haltungsanalysen weitere wichtige Vorgänge beim Musizieren untersucht werden. Ein wichtiges Ziel ist zudem die individuelle Wahrnehmung der durch feinmotorische Tätigkeiten erzeugten taktilen Impulse – auch bezüglich eines gesundheitlich relevanten Musizierverhaltens. So wird z. B. möglich, Verkrampfungen oder Übermüdungen frühzeitig festzustellen und darauf zu reagieren.

Die Pilotstudie

Im Februar 2023 nahmen 32 Studierende der Hochschule für Musik Nürnberg an einer Pilotstudie teil, in der eine speziell für die Studie entworfene fünfminütige Etüde bewältigt werden musste. Die Etüde war so designt, dass folgende Forschungsfelder untersucht werden konnten: Finger- und Kieferdruck bei Lagenwechseln, Dynamikänderung und Vib­rato sowie bei komplexer Koordination bis zur Unspielbarkeit. Durch Letzteres wurde ein Szenario erzeugt, in dem die haptische von der kognitiven Wahrnehmung abgekoppelt und überlagert wurde: Die ProbandInnen kamen ins Schwitzen!
Die Ergebnisse sollten Hinweise auf folgende Fragen geben: Korrelieren die Wahrnehmungen der SpielerInnen und Dozierenden mit den objektiven Messdaten? Können die Daten auf Missstände hinweisen oder die Spielanalyse unterstützen und somit das Üben und Unterrichten angenehmer und effizienter gestalten? Kann der Wohlfühlfaktor beim Spielen verbessert werden? Können neue Erkenntnisse und Einblicke durch „Hightech im Musikeralltag“ für die Unterrichtsmethodik gewonnen werden? Im Folgenden einige ausgewählte Ergebnisse.

Durchschnittlicher Kieferdruck
Bei den meisten Spielenden nimmt im Laufe der Spieldauer der Kieferdruck signifikant ab. Aus den Messergebnissen kann eine Gewöhnung an die Spielsituation, ein generelles Nachlassen der Kraft und eine intuitive Optimierung an den Messungsstress abgeleitet werden. Der Normbereich des Kieferdrucks betrug ca. 1,5 Kilogramm (Abb. 3). – Abbildung 3:


Bei leichten Stellen ist die Greifkraft in der linken Hand geringer als bei schweren Stellen: Die Geige kann leichter mit der linken Hand gehalten werden. Eine übermäßige Kraftentfaltung im Kiefer ist unnötig und wurde von den ProbandInnen intuitiv vermieden. Der Normbereich des Fingerdrucks betrug ca. 400 Gramm. Am Ende der Spezialübung mussten Mehrfachgriffe in schneller Abfolge gespielt werden. Die ProbandInnen drückten zu viel. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Fingerdruck den Kieferdruck teilweise überstieg.

Vibrato
Es gibt und gab schon immer große methodisch-didaktische Unterschiede in der Betrachtung der Lehr(un)möglichkeiten des Violinvibratos, die sich nur zu einem geringen Teil zeitlich-stilistisch begründen lassen. Die Untersuchung von Quantiforce PARTs hat beim Spiel der Etüde bezüglich des Fingerdrucks der Finger 1-4, also Zeigefinger bis kleiner Finger, ergeben: „Der Fingerdruck […] nimmt bei den gleichen Spielabschnitten […] um 25% ab, bei Vergleich von Zeile 1 und 2 (identische Noten, mezzopiano-Spiel mit und ohne Vibrato) nimmt der Fingerdruck bei Vib­rato sogar um 35% ab.“4 Dieses Untersuchungsergebnis führt dazu, dass viele der bisherigen Lehrmeinungen geändert oder ergänzt werden sollten.
Simon Fischer vertritt die These, dass beim Zurückschwingen der Hand zur Schnecke der Fingerdruck niedriger ist als beim Erreichen der Tonhöhe des zu spielenden Tons. Er verwendet zur Verdeutlichung punktierte Rhythmen, wobei der Druck während der kürzeren Noten reduziert wird.5 Auf der Grundlage der Messergebnisse empfehlen wir als Ergänzung eine umgekehrte Übung:

Zurück = Bewegung zur Schnecke: Fingerspitze löst sich von der Saite; Finger streckt sich. X = Bewegung zum Steg: Fingerspitze geht tiefer in die Saite; Finger krümmt sich.
Durch diese umgekehrte Übung wird Folgendes erreicht: Im Großteil der Klangdauer wird der Fingerdruck auf die Saite reduziert. Während des langsamen Zurückziehens und Entspannens des Fingers kann gut darauf geachtet werden, dass das Fingerendgelenk sich dabei nicht übermäßig und unkontrolliert streckt. Die gewünschte Tonhöhe ist rhythmisch einfach zu orten. Durch die längere Phase der Entlastung der Saite wird das rhythmisch regelmäßige Schwingen bei reduziertem Fingerdruck gefördert. Mehr dazu im Online-Material zum Vibrato (siehe unten), inklusiv einiger, auf der Basis der Ergebnisse erstellten Übungen.

Lagenspiel
Die meisten Lehrbücher unterrichten nur basale Zusammenhänge zwischen Lagenspiel und den Kräften, die in Schulter und Kiefer wirken. Die Untersuchung von Quantiforce PARTs kam, was den Kieferdruck beim Spielen in den hohen Lagen betrifft, zu einem überraschenden Ergebnis: „Im Vergleich von erster zu achter Lage nimmt der Kieferdruck bei über 90% der Studienteilnehmenden um 98% zu. Dass dazu eine Notwendigkeit bestehen würde, findet sich in der violinpädagogischen Literatur nicht. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es sich um einen unentdeckten, weit verbreiteten technischen Fehler handelt, der aufgrund fehlender Messmöglichkeiten noch nicht entdeckt worden ist.“6 Durch die Bewegung des Arms nach rechts und die Bewegung der Hand nach oben wird die Schulter mit nach oben gezogen und wirkt gegen den Kinnhalter bzw. den Kiefer. Im Prinzip ist diese Zunahme der Kraft, die auf den Kinnhalter wirkt, systemimmanent, jedoch kann zu starke Druckkraft im Kiefer zu Verkrampfungen der Halsmuskulatur führen.
Beim Lagenwechsel nach unten muss die Geige mit dem Kopf gehalten werden, um nicht unter dem Kinn herausgezogen zu werden. Auch bei Lagenwechseln aufwärts wird die Geige kurzzeitig mit wenig oder gar keiner Handunterstützung gehalten: Das ist der Moment der Vorbereitungsbewegungen für den Lagenwechsel. Nach dem Erreichen des neuen Tons sollte bewusst darauf geachtet werden, dass der zusätzliche Kieferdruck nun nicht mehr notwendig ist. Dies kann anhand der grafischen Kraftanzeige in der App intuitiv nachvollzogen werden. Mehr dazu im Online-Material zum Lagenspiel (siehe unten), inklusiv einiger, auf der Basis der Ergebnisse erstellten Übungen.

Anwendungsbereiche

– Methodik: Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse können neue Lernstrategien für bekannte Schwierigkeiten im Anfänger- sowie im fortgeschrittenen Bereich entwickelt werden.
– Exploratives Lernen: Durch Echtzeit-Feedback können SpielerInnen auf der App während des Spielens ihre verwendeten Kräfte ablesen und proaktiv Entscheidungen fällen, wie die jeweilige Stelle mit dem geringsten Aufwand und doch mit bester Qualität gespielt werden kann. Sie werden angeregt, aktiv-forschend ihr Spiel zu optimieren.
– Remote Learning: Beim Online-Unterricht liegen Lehrenden glasklare Daten vor, die trotz manchmal schlechter Klang- oder Bildübertragung eindeutige Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten geben können.
– Konzertsituation: Welcher Geiger und welche Geigerin fürchtet nicht den „Verlust“ an Spielqualität auf der Bühne? Äußere Stressfaktoren und psychische Belastungen beeinflussen die Qualität vieler Musikaufführungen erheblich. Wieso hat es im Konzert nicht so gut geklungen wie zu Hause? Was habe ich denn anders gemacht? Ein Hauch von Verzweiflung schwebt über diesen Fragen. Die Sensorgeige bleibt cool: Hier sind deine Daten! Falls es einen Unterschied in der Spielweise geben sollte: Die Sensorgeige merkt es.

Fazit

Die Sensorgeige als Wunderwaffe gegen das wohlbekannte Meer aus violintechnischen Fragestellungen zu sehen, ist wohl vermessen. Aber vermessen kann sich so ein Hightech-Instrument eben wiederum nicht! Weitere Forschungen mit der Sensorgeige an der Hochschule für Musik Nürnberg werden Neues zutage fördern oder bestehendes Wissen untermauern. Zum ersten Mal kann das oben beschriebene Feld mit höchster Messgenauigkeit untersucht werden. Und selbst wenn die Ergebnisse bisheriges Fachwissen „nur“ bestätigen würden, ermutigen sie trotzdem, mit noch größerer Sicherheit die eigenen Lehrwege weiter zu beschreiten oder, inspiriert durch die modernen Erkenntnisse, auch mal etwas Neues auszuprobieren.

1 PARTs steht für Performing ARts Technology systems. Quantiforce PARTs ist ein Teilprojekt des an der Hochschule für Musik Nürnberg beheimateten Projekts RE|LEVEL – Remote Learning an Musikhochschulen: Explorieren – Evaluieren – Etablieren, dessen Ziele es sind, positive Impulse aus der Distanzlehre aufzugreifen und die digitale Hochschullehre durch die Konzeption, Erprobung und Evaluation von digital gestützten Lehr- und Lernarrangements weiter auszubauen. Gefördert wird das Projekt von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.
2 Grosshauser, Tobias/Tröster, Gerhard: „Finger Posi­tion and Pressure Sensing Techniques for Strings and Keyboard Instruments“, in: Proceedings of the Inter­national Conference on New Interfaces for Musical ­Expression, S. 479-484, Daejon 2013, DOI: 10.5281/zenodo.1178538 (Stand: 2.7.2024).
3 Grosshauser, Tobias et al.: „New Sensors and Pattern Recognition Techniques for String Instruments“, New Interfaces for Musical Expression, Sydney 2010.
4 Kuppel, Reto/Grosshauser, Tobias: „Zwischenbericht der Untersuchung Quantifore PARTs für das Projekt RE|LEVEL“, Hochschule für Musik Nürnberg, 2023, S. 10.
5 Fischer, Simon: Basics. 300 exercises and practice ­routines for the violin, London 1997, dt. Übers. 2013, S. 214.
6 Kuppel/Grosshauser, a. a. O.

Quantiforce PARTs wird finanziert durch das Projekt RE|LEVEL – Remote Learning an Musikhochschulen: Explorieren – Evaluieren – Etablieren, gefördert von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.

Online-Material zum Vibrato:

Online-Material zum Lagenspiel:


Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2024.