Dartsch, Michael
Erziehen in der Musikschule?
Erziehung und die Ziele im neuen Bildungsplan des Verbands deutscher Musikschulen
Der Begriff „Erziehung“ scheint in der Musikpädagogik kaum noch Konjunktur zu haben. Und man kann sich fragen, ob Eltern, die ihr Kind zum Musikunterricht schicken, erwarten, dass es dort erzogen wird. Allerdings ist der Erziehungsbegriff seit über 50 Jahren in der Fachbezeichnung „Musikalische Früherziehung“ enthalten, an der der Verband deutscher Musikschulen auch in der neuesten Fassung seines Strukturplans festhält.1 Es stellt sich also die Frage, ob und wie dieser Begriff für die Musikpädagogik fruchtbar sein kann.
Weder wird Erziehung 2013 auf einer Sitzung der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik, welche „(Grund)Begriffe musikpädagogischen Nachdenkens“2 behandelt, thematisiert noch erscheint im Handbuch Musikpädagogik3 ein diesem Begriff gewidmetes Kapitel. Er erscheint dort aber zumindest in einem Text über Musikbegriffe, wenn es um „Musik als Funktionsträger für erzieherische Zwecke“,4 also um „Erziehung durch Musik“5 geht. Dementsprechend ist der Begriff der Musikerziehung zur Zeit der Jugendmusikbewegung allgegenwärtig. So ist Fritz Jöde überzeugt, „daß Musikerziehung von Menschenerziehung im ganzen gar nicht zu trennen ist“,6 und betont: „Nur die Richtung auf die Gesinnung, auf den Menschen, auf die Gemeinschaft, – also die Richtung zum Adel kann unsere Richtung sein“.7 Vielleicht ist es kein Zufall, dass auch dort, wo um die Jahrtausendwende die Diskussion um die außermusikalischen Wirkungen von Musik Fahrt aufnimmt, der Begriff der Musikerziehung Verwendung findet, namentlich im Titel der Publikation Hans Günther Bastians: Musik(erziehung) und ihre Wirkung.8
Ungleich häufiger erscheint im Fachdiskurs der Begriff der „musikalischen Bildung“, der etwa in zwei Publikationen aus den Jahren 2014 und 2018 jeweils einen prominenten Platz erhält.9 In jüngerer Zeit wird Bildung dabei als Tätigkeit verstanden, die „nur von den jeweiligen Individuen selbst vollzogen werden“10 kann. Demgegenüber wird die Tätigkeit des Erziehens einer pädagogisch handelnden Person zugeschrieben. Die Erziehungstheorie fokussiert dabei immer mehr „auf die Hilfe zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung“.11 So wird Erziehung etwa als „Hilfestellung zur Entwicklung personaler und sozialer Selbstwerdung und Handlungsfähigkeit“12 gesehen.
Ob das, was als Hilfe gemeint ist, immer als Hilfe ankommt, ist dabei vielleicht unerheblich. Was zählt, könnte die entsprechende erzieherische Absicht sein.13 Diese zielt nach einer viel zitierten Definition auf die Verbesserung oder Erhaltung der psychischen Disposition anderer Menschen beziehungsweise auf die Verhütung schlechter Dispositionen.14 Fragt man, wie Dispositionen verbessert, erhalten und verhütet werden können, so können drei Maximen, die Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen von 1826 geltend macht, zu einer Konkretisierung beitragen:
– Unterstützung,
– Gewährenlassen und Behüten,
– Gegenwirkung.15
Um gute Ansätze weiter zu verbessern, bedarf es gezielter Unterstützung. Im Hinblick auf das, was im Einklang mit Erziehungszielen steht, kann man das Kind gewähren lassen; zusätzlich kann es angezeigt sein, schlechte Einflüsse fernzuhalten, das Kind also davor zu behüten. Zeichnet sich etwas ab, das den Erziehungszielen entgegensteht, so kann ein Abgleiten in die unerwünschte Richtung durch Maßnahmen des Gegenwirkens verhindert werden.
1 Verband deutscher Musikschulen: Elementar-/Grundstufe, www.musikschulen.de/musikschulen/strukturplan/elementar-grundstufe/index.html (Stand: 22.2.2025).
2 Vogt, Jürgen/Heß, Frauke/Brenk, Markus (Hg.): (Grund-)Begriffe musikpädagogischen Nachdenkens. Entstehung, Bedeutung, Gebrauch. Sitzungsbericht 2013 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik, Münster 2014.
3 Dartsch, Michael/Knigge, Jens/Niessen, Anne/Platz, Friedrich/Stöger, Christine (Hrsg.): Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse, Münster 2018.
4 Geuen, Heinz: „Musikbegriffe“, in: Dartsch et al., S. 18.
5 ebd., S. 19.
6 Jöde, Fritz: Musik. Ein pädagogischer Versuch für die Jugend, Wolfenbüttel 1919, https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1102176826#page/9/mode/1up (Stand: 22.2.2025), S. 9.
7 ebd., S. 7.
8 Bastian, Hans Günther; unter Mitarbeit von Adam Kormann, Roland Hafen und Martin Koch: Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz 2000.
9 Vogt, Jürgen: „Musikalische Bildung – ein lexikalischer Versuch“, in: Vogt et al., S. 37 ff.; ders.: „Musikalische Bildung“, in: Dartsch et al., S. 31 ff.
10 ebd., S. 34.
11 Auernheimer, Georg: „Erzieher – Erziehung – Erziehungsmittel – Erziehungstheorie“, in: Wulf, Christoph (Hg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1984, S. 187 ff., hier: S. 188.
12 Raithel, Jürgen/Dollinger, Bernd/Hörmann, Georg: Einführung Pädagogik. Begriffe – Strömungen – Klassiker – Fachrichtungen, Wiesbaden 2007, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, S. 21.
13 Heid, Helmut: „Erziehung“, in: Lenzen, Dieter (Hg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1994, S. 43 ff., hier: S. 51 ff.
14 Brezinka, Wolfgang: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft, München 1977, 3., verbesserte Auflage, S. 95.
15 Schleiermacher, Friedrich: „Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesungen 1826)“, in: Schleiermacher, Friedrich: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe. Band 2, hg. von Michael Winkler und Jens Brachmann, Frankfurt am Main 2000, S. 72 ff.
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