Thielemann, Kristin

Demokratie braucht Musikpädagogik!

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 4/2025 , Seite 39

In einer Zeit wachsender antidemokratischer Tendenzen brauchen wir einen Demokratieunterricht, der wirklich sitzt – und zwar nicht nur für die nächste Generation, sondern für uns alle! Demokratie ist kein Schulfach, das man irgendwann „abhakt“, sondern ein lebendiger Prozess, der tägliche Übung und vor allem positives Erleben verlangt. Gerade Musikschulen – Orte der persönlichen Entfaltung, aber eben auch des (so hoffen wir oft) kulturellen Miteinanders – kann hier eine Schlüsselrolle zufallen!
Wir MusikpädagogInnen sind darauf spezialisiert, entdeckendes Lernen zu ermög­lichen, Zuhören zu schulen, das Reagieren auf feinste Nuancen, das Kennen- und Liebenlernen von Neuem, Fremdem, vielleicht zunächst weniger liebenswert Erscheinendem. Unser Unterricht ist nicht nur Wissensvermittlung, er ist das Ermöglichen von künstlerischen Erfahrungen, die Begegnung mit Tradition, aber auch Fremdheit, das gemeinsame Weiterentwickeln einer Kultur und das Wecken der Lust am gemeinsamen musikalischen Tun. Das ist nicht nur methodisch wirkungsvoll, sondern kann im Kern zutiefst demokratisch sein: Es geht um Selbstbestimmung, Mitgestaltung und Anerkennung von Vielfalt.
Die Dresdner Erklärung des Verbands deutscher Musikschulen, verabschiedet auf dem Musikschulkongress 2025, ist ein starkes kulturpolitisches Statement. Sie formuliert Musikschulen als Orte der Demokratiebildung – und trifft damit den Kern einer der wichtigsten gesellschaftlichen He­rausforderungen unseres Jahrhunderts!
Doch wir müssen ehrlich sein: Wie viel Demokratie leben wir wirklich? Findet sich die Demokratie wieder in der Art, wie wir unsere Musikschule (oder Hochschule) führen, unseren Unterricht gestalten, wie wir SchülerInnen oder Studierende beteiligen, wie wir mit externen Institutionen zusammenarbeiten? Demokratie zeigt sich nicht nur in Erklärungen und Absichten, sondern in Strukturen, in Prozessen – und im täglichen Miteinander.
Ein zentrales Element dabei ist Teilhabe. Sie ist kein Add-on, kein Bonus, sondern das Fundament jeder lebendigen Demokratie. Wo Menschen mitgestalten können, entsteht Bindung – aneinander, an eine Gemeinschaft, an die Idee des gemeinsamen Aushandelns und manchmal auch Zurückstehens. Musizieren, ob als Hobby, im Studium oder im Berufsalltag, bietet dafür wohl die besten Räume überhaupt. Doch diese müssen geöffnet, zugänglich und gestaltbar sein – für alle!
Teilhabe heißt: SchülerInnen lernen Mitbestimmung, Argumentation und Kompromissfindung, üben sich in Toleranz und der Akzeptanz anderer Meinungen. Lehrkräfte verstehen sich nicht als Sendende, sondern als Ermöglichende. Konzertprogramme und Curricula spiegeln kulturelle Vielfalt. Jurys, Gremien und Fachkonferenzen fragen sich aktiv: Wer fehlt? Wer wird übersehen? Wer ist zwar Teil der Gesellschaft, aber nicht Teil unserer Strukturen?
Denn: Wenn wir es nicht schaffen, Frauen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder Behinderung gleichberechtigt zu beteiligen, bleibt Demokratie ein Lippen­bekenntnis, denn wo Menschen im Alltag kaum Mitbestimmung erleben, sondern institutionelle Macht von oben, wird Demokratie zur bloßen Kulisse. Dann verwelkt sie – und autoritäres Denken gewinnt Raum.
Wenn wir es ernst meinen mit Demokratie, dann müssen wir sie leben – im Kleinen wie im Großen. Unsere Musikschulen können Keimzellen der Demokratie sein. Aber nur, wenn wir bereit sind, unser komplettes System einmal durch die Demokratiebrille zu evaluieren: Wo ist die echte Mitbestimmung von SchülerInnen? Wo sind Fächer und Formate, die Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder anderer Kulturen ansprechen? Wo sind Notenausgaben, die Diversität und kulturelle Offenheit fördern und auch nicht­lineare Lernwege ermöglichen? Wo sind Rollenvorbilder für Mädchen und junge Frauen, für People of Color, für Menschen mit Behinderung? Wo ist Inklusion selbstverständlich und nicht bloß Tokenismus einer Institution?
Wir haben das Potenzial, Räume zu schaffen, in denen Teilhabe gelebt, Vielfalt geschätzt und Mitgestaltung ermöglicht wird – für eine Gesellschaft, die ganz dringend eine wohlklingende Sinfonie für ihr Orches­ter sucht, bei dem derzeit einige überhaupt nicht mitspielen und andere mit falschen Tönen absichtlich die Musik sabotieren. Diese Chance auf ein Orchester, in dem jeder seinen Teil zur Sinfonie beitragen darf, sollten wir entschlossen ergreifen und nicht davor zurückscheuen, mit der Demokratiebrille auf der Nase auch einmal Dinge zu erkennen, die noch verbessert werden müssen. Demokratie ist kein Zustand. Sie ist eine tägliche Entscheidung – auch und gerade in der Musikpädagogik.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2025.

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support