Gerland, Juliane
Niedrigschwellig und voraussetzungsreich
Perspektiven des Ver-Lernens für eine inklusionsorientierte Musikpädagogik
Das Ausbalancieren zwischen niedrigschwelliger Zugänglichkeit und voraussetzungsreichem Expertentum kann zu einer musikpädagogischen Sackgasse werden – oder zu einem Gedankenexperiment, das uns beim Lernen, Lehren, Forschen und Musizieren gleichermaßen irritiert wie ermutigt.1
Die Situation der Musikpädagogik ist angespannt: Der Lehrkräftemangel ist exorbitant, in der Schule und in den außerschulischen Feldern. Die bildungspolitische Wertschätzung des Fachs Musik und der kulturellen Bildung kommt regelmäßig nicht über das Stadium der Lippenbekenntnisse hinaus. Die Sparzwänge sind enorm, einige Bundesländer schaffen den Status des Fachs Musik zugunsten von Fächerverbünden der künstlerischen Disziplinen ab – und zwar als eine Antwort auf PISA-Ergebnisse, die doch offensichtlich eine „andere“ Schule fordern.
Was im Zuge allgemeiner Sparzwänge nicht reduziert wird, sind Erwartungen – auch und gerade überfachliche Erwartungen, die im Hinblick auf Persönlichkeitsentwicklung, auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und besonders im Hinblick auf Inklusion an die Musikpädagogik herangetragen werden: „Das muss doch mit Musik eigentlich gut gehen.“ „Musik spricht jeden an.“ „Musik: eine Sprache, die alle verbindet.“ Stimmt zwar – ist aber ein schweres, weil unübersichtliches und pauschales Päckchen. Zumal unser Rucksack schon ziemlich voll ist: Als Lehrende und Lernende an Musik(hoch)schulen tragen wir einige Jahrhunderte Tradition mit uns herum, die wichtig sind, weil sie uns zu dem machen, was wir heute sind. Jahre des Übens, Probens, Verwerfens und Weiterübens – das hat mit Niedrigschwelligkeit nicht viel zu tun.
Grundsätzlich ist anzumerken, dass auch ein inklusiver Musikunterricht in erster Linie ein Musikunterricht ist. Es geht darum, SchülerInnen in ihrer musikalischen Entwicklung zu unterstützen und ihnen musikbezogenes Lernen zu ermöglichen und nicht (oder jedenfalls nicht ausschließlich) darum, sie durch Musik zu aktivieren oder in sozialen Kontakt zu bringen. Auch und gerade im inklusiven Unterricht muss es darum gehen, dass jeder etwas lernen kann – sonst ist es weniger Teilhabe an Bildung als bildungspolitische Augenwischerei.
Inklusionsorientierte Musikpädagogik
Inklusion bedeutet hier, musikpädagogisch so zu handeln, dass jede und jeder Lernende das bekommt, was aktuell für die persönliche musikalische Entwicklung sinnvoll ist, damit langfristig das individuelle musikbezogene Potenzial zufriedenstellend ausgeschöpft werden kann. Neben diesem Motiv der Ermöglichung identifiziert eine inklusionsorientierte Musikpädagogik materielle, strukturelle oder ideelle Barrieren, die dieser Ermöglichung im Weg stehen, und baut sie ab. Orientiert an einem weiten Inklusionsverständnis geht es um die grundsätzliche Wertschätzung der Vielfalt von Menschen einer Gesellschaft, einer Schulklasse, einem Musikschulensemble, einer Gruppe im Instrumentalunterricht oder einer anderen sozialen Konstellation.
Ein genauerer Blick zeigt, dass unterschiedliche musikbezogene Realitäten keinesfalls automatisch eine integrierende Dynamik besitzen und dass Musik nicht von allein auf gerechte Art und Weise zugänglich gemacht wird. Dementsprechend notwendig sind kritische Perspektiven. So hinterfragt eine rassismuskritische Perspektive Vorurteile und Benachteiligungen aufgrund vorhandener oder angenommener kultureller oder ethnischer Unterschiede. Eine klassismuskritische Perspektive fokussiert Vorurteile aufgrund sozioökonomischer Hintergründe. Untersuchungen genderspezifischer Diskriminierungen machen eine weitere Differenzlinie deutlich, die ebenfalls mit musikpädagogischer Praxis verwoben ist: Gendereffekte bei der Instrumentenwahl, Besetzung bestimmter (Leitungs-)Positionen z. B. in Musikschulen, in Verbänden, an Hochschulen.
Ableismus im Kontext Inklusion
Gleiches gilt für Kategorisierungen nach Fähigkeiten und Leistungen, die als Ableismus bezeichnet werden: also die Unterscheidung in fähig und weniger fähig, in abled bzw. disabled, der Diskurs um das Spektrum Behinderung und Begabung und dem, was unter einem engen Inklusionsbegriff verstanden wird. „Als ableistisch können […] Praktiken erachtet werden, die im Rahmen einer […] Differenzordnung die Exklusion von als nicht oder weniger fähig klassifizierten Subjekten von materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen betreiben.“2 Das erscheint zunächst abstrakt, ist aber ein Grundmotiv musikpädagogischer Praxis: Wir erzeugen ein erhöhtes Marginalisierungsrisiko für Personen, die wir als nicht oder weniger fähig klassifizieren, indem ihnen der Zugang zu Angeboten musikalischer Bildung aufgrund ihrer Fähigkeiten bzw. ihrer als nicht oder nur eingeschränkt vorhanden erscheinenden Fähigkeiten erschwert wird. Wenn allerdings einer Person aufgrund ihrer als gering bewerteten Fähigkeiten Zugang zu Bildung erschwert wird, potenziert sich damit das Problem, denn das Ungleichgewicht in Bezug auf Fähigkeiten vergrößert sich durch reduzierte Bildungschancen weiter.
In der Musikpädagogik geschieht Ableismus dann, wenn die Antwort auf als abweichend empfundene Lern- und Bildungsprozesse und geringe Vorerfahrung so ausfällt, dass sich Bildungswege verengen, anstatt sich zu öffnen und so zusätzliche Erschwernisse dort entstehen, wo es sowieso schon nicht leicht ist. In der Musikschule können Ableismus-Fallen dort versteckt sein, wo SchülerInnen aufgrund persönlicher Voraussetzungen grundsätzlich nicht als SchülerInnen einer Musikschule in Frage zu kommen scheinen oder durch Lernschwierigkeiten beispielsweise nur langsam Fortschritte im Instrumentalunterricht machen. Vorschnell ergibt sich vielleicht der Eindruck geringen musikalischen Interesses, mangelnder Musikalität oder fehlender Anstrengungsbereitschaft. Möglicherweise geht es aber um abweichende Lernwege, kulturelle Anpassungsleistungen, sensomotorische Herausforderungen etc. Zugleich zeigt sich, wie verschiedene Differenzkategorien miteinander interagieren.
Zur Unvereinbarkeit
So ergibt sich ein widersprüchliches und spannungsreiches Bild von Musik: Motor für Inklusion, vielfältig zugängliches Medium einerseits, voraussetzungsreich und durchsetzt von Diskriminierungspotenzialen andererseits. Wie lässt sich diese Spannung erklären?
Der überwiegende Teil der MusikpädagogInnen ist in einem normativen und reproduktiven Musikverständnis sozialisiert. Wir wissen, wie man Bach spielen darf und wie nicht, wir sind gewöhnt an einen Mainstream diverser Genres zwischen sogenannter klassischer Musik über Pop, Rock, Jazz und verschiedensten elektronischen Stilistiken. Grundsätzlich mögen wir lieber richtige Töne als falsche und ein Beat, den wir produzieren, soll auf eine ganz bestimmte Art und Weise unseren Vorstellungen entsprechen. Wir korrigieren Intonation und erhöhen die Tempi, wir optimieren Technik und unseren musikalischen Ausdruck. Wir akkumulieren sehr spezifisches Wissen. Unseren SchülerInnen geben wir dieses Verständnis mit – ob in der Schule, in der Musikschule oder in selbstständiger Unterrichtstätigkeit. Wir haben eine Vorstellung davon, was Musik ist und was an Wissen und Können dazugehört.
1 Gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung von Juliane Gerland, gehalten am 26. Juni 2024, Universität Münster, Fachbereich Musikhochschule, Institut für Musikpädagogik.
2 Buchner, Tobias: „Ableism verlernen? Reflexionen zu Bildung und Fähigkeit als Professionalisierungsangebot für Lehrer*innen im Kontext inklusiver Bildung“, in: Akbaba, Yaliz/Buchner, Tobias/Heinemann, Alisha M. B./Pokitsch, Doris/ Thoma, Nadja (Hg.): Lehren und Lernen in Differenzverhältnissen. Interdisziplinäre und Intersektionale Betrachtungen, Wiesbaden 2022, S. 203.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2025.