Lessing, Kolja
Tonaufnahmen zur Selbstkontrolle im Unterricht
Ein visionäres Plädoyer von Camille Saint-Saëns aus dem Jahr 1913
„Aufgrund persönlicher Erfahrungen riet ich den Lehrern, ihre Schüler vor einem Aufnahme-Phonographen singen oder spielen zu lassen – um sie dann die phonographische Wiedergabe zur Erkennung ihrer eigenen Fehler hören zu lassen. Als ich auf diese Weise selbst die Aufnahme einer Passage aus einem meiner Werke gehört hatte, die ich immer sehr schlecht realisierte, war ich ein für allemal von diesem Übel geheilt. Diese Wirkung liegt in der Tatsache begründet, dass der Fehler, scheinbar von einer anderen Person stammend, viel stärker trifft.“
Gleichsam am Vorabend der Grande Guerre, des Ersten Weltkriegs, entwirft Camille Saint-Saëns in einem Brief1 eine Vision, deren Realisierung heute selbstverständlich scheint. 1913 stand die Aufnahmetechnik indessen noch in ihren Anfängen, kaum war die rasante Entwicklung und Verbreitung der Ton- und Bildaufzeichnungsmöglichkeiten in den nachfolgenden Jahrzehnten abzusehen. Saint-Saëns hat in seinem langen Leben von 1835 bis 1921 nur vier Jahre explizit pädagogisch gewirkt. So war er von 1861 bis 1865 als Klavierlehrer an der École Niedermeyer tätig, einer Kirchenmusikschule in Paris, an der kein Geringerer als Gabriel Fauré zu seinem Schülerkreis gehörte. Der Unterricht von Saint-Saëns beschränkte sich jedoch keineswegs auf pianistische Belange. Er war gleichermaßen eine Einführung in die damals aktuellen Strömungen der Musik – namentlich in Deutschland – und umfasste ebenso eine kritisch-ermutigende Betreuung von kompositorischen Arbeiten der Studenten.2
1 Auszug aus einem Brief von Camille Saint-Saëns an Paul Milliet vom 12. Mai 1913, zitiert nach Soret, Marie-Gabrielle (Hg): Saint-Saëns. Un esprit libre, Paris 2021, S. 93 (Übersetzung durch den Autor).
2 ebd., S. 96.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2025.