Behschnitt, Rüdiger
Einer lautlosen Krankheit Gehör verschaffen
Die Kulturinitiative „music & ME“ kämpft für mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit ME/CFS
„Music & ME“ – Musik und ich: Für alle, die Musik machen (ob professionell oder als Amateure) und Musik unterrichten, steht außer Frage, dass Musik eng mit ihrer Person verknüpft ist. Doch halt: Das versal geschriebene ME und der Untertitel der Kulturinitiative „music & ME – gemeinsam gegen ME/CFS“ deuten darauf hin, dass es hier um etwas anderes geht.
ME ist die Abkürzung für den Zungenbrecher Myalgische Enzephalomyelitis; der Zusatz CFS steht für Chronisches Fatigue Syndrom. Bei ME/CFS handelt es sich um eine schwere Multisystemerkrankung, deren Auswirkungen alle Organsysteme betreffen können.
„Meine jetzt 17-jährige Tochter ist seit ca. drei Jahren praktisch in ihrem Zimmer eingesperrt. Meistens ist sie im Bett, jegliche Aktivität (sogar lesen oder sprechen) geht nur für kurze Zeit.“*
Obwohl ME/CFS bereits 1969 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung eingestuft wurde, ist das Krankheitsbild einem Großteil der Ärzte und Ärztinnen noch immer nicht bekannt. Die zunehmenden Erschöpfungszustände der Erkrankten werden oft als Stresssymptome, Burn-out oder depressive Zustände diagnostiziert. Dabei ist ME/CFS „ein eigenständiges komplexes Krankheitsbild, das nicht mit dem Symptom Fatigue gleichzusetzen ist“, schreibt Fatigatio e. V. – Bundesverband ME/CFS in seiner Schriftenreihe. Charakteristisch für ME/CFS ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz (PEM = Post Exertional Malaise), die weit über uns allen bekannte Müdigkeit oder Erschöpfung hinausgeht. Auch nur geringe körperliche oder kognitive Anstrengung führt zu einer Überlastung des Gesamtorganismus und zu einem Crash, der die Erkrankten zum Teil tagelang ans Bett fesselt.
„Es ist wie Sterben in Slow Motion. Man ist ein Leben lang gefühlt in einem Stadium, das sich anfühlt, als sei man kurz vor dem Sterben.“
Laut Deutscher Gesellschaft für ME/CFS e. V. gibt es in Deutschland etwa 620000 Betroffene (Stand: 2023), davon ca. 80000 Kinder – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Erkrankten sind meist jüngere Menschen und überwiegend weiblich. Etwa 60 Prozent der Erkrankten sind arbeitsunfähig, ein Viertel kann das Haus nicht mehr verlassen. Beim schwersten Verlauf von ME/CFS bedeutet die Krankheit absolute Pflegebedürftigkeit mit Intoleranz von Licht, Geräuschen und Berührung. Auch ein tödlicher Verlauf ist möglich. Ausgelöst werden kann die Krankheit durch unterschiedliche Vorerkrankungen, darunter sogenannte rezidivierende Viren, also durch Reaktivierung von z. B. Herpes- oder SARS-CoV-2-Viren. Durch die Covid-Pandemie ist die Zahl der mit ME/CFS Infizierten deutlich gestiegen, wodurch das Krankheitsbild in der Öffentlichkeit und in den Medien zunehmend an Aufmerksamkeit erfährt. Doch noch immer ist das Bewusstsein in der Ärzteschaft nicht groß genug, es fehlt an Forschung und an Wissen in Bezug auf die Entstehung der Erkrankung. Eine Heilung von ME/CFS ist nicht möglich, Medikamente sind in weiter Ferne.
„Fast kein Arzt kennt diese Krankheit. Man fühlt sich total alleingelassen. Man fühlt sich ohnmächtig, wertlos und missverstanden.“
Die Krankheit führt auch die Familien der Betroffenen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Dennoch oder gerade deshalb kämpfen viele Familien für ihre erkrankten Angehörigen um mehr Aufmerksamkeit, z. B. mit den in vielen Städten jeweils im Mai rund um den Internationalen ME/CFS-Tag stattfindenden „Liegend Demos“. Auch Sonja Equiluz und Susanne Equiluz-Bruck wollten nicht tatenlos zusehen, wie die Krankheit das Leben ihres Bruders bzw. Sohns zerstört. Jan ist 21 Jahre alt, als er nach einer Corona-Infektion an ME/CFS erkrankt. „Mit 6 Jahren hat er das Trompetenspielen für sich entdeckt, er will Berufsmusiker werden. Bereits mit 14 Jahren studiert er neben der Schule Trompete an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK Wien) und spielt in der Volksoper, dem RSO und anderen Orchestern.“ So steht es auf der Website der Kulturinitiative „music & ME“, die die beiden Frauen 2024 gegründet haben. Im Jahr davor hatte Jan sein Trompetenstudium endgültig abbrechen und seinen Kindheitstraum aufgeben müssen.
„Nach drei Jahren kann Jan seit ein paar Wochen nun endlich wieder regelmäßig außer Haus gehen“, sagt Sonja Equiluz. „Die Tage am Sofa im abgedunkelten Zimmer mit Brain Fog, Konzentrationsstörungen und Geräuschempfindlichkeit scheinen vorbei. Jan zählt damit zu den etwa fünf Prozent der Betroffenen, die eine Verbesserung ihres Zustandsbildes erleben dürfen. Die Familie gewöhnt sich jetzt wieder langsam an die neue alte Realität und dass nicht mehr jede Kleinigkeit und selbst Alltagsaktivitäten geplant werden müssen.“
Denn in der Familie nahm Jans ME/CFS-Erkrankung erzwungenermaßen einen zentralen Platz ein und führte zu einem Umbruch im gewohnten Miteinander. Stück für Stück erarbeitet sich die Familie aber jetzt nach der langen Beschränkung auf ein Minimum ihr vormals sehr aktives Familienleben wieder zurück. „Trotz der deutlichen Einschränkungen galt Jan nur als mild bis moderat betroffen“, so Sonja Equiluz. „Für schwer erkrankte Menschen sind seine Möglichkeiten nicht einmal mehr vorstellbar.“ Deshalb brauche ME/CFS eine noch größere mediale Aufmerksamkeit, um Forschung zu initiieren, die dringend benötigten medizinischen Zentren zu etablieren und Betroffene sozial und finanziell zu unterstützen.
„ME/CFS-Diagnostik muss nahezu komplett von den Patienten finanziert werden. Das Erhalten einer menschenwürdigen, suizidverhindernden Lebensqualität kostet mich 600 Euro pro Monat.“
Jans Schwester Sonja, Klarinettistin und Klarinettenlehrerin, und Mutter Susanne laden mit „music & ME“ Kulturschaffende ein, ihre Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, um „einer unsichtbaren Krankheit Gehör zu verschaffen“, wie es auf Plakaten der Initiative heißt. Beeindruckend lang ist die Liste der Benefiz-Veranstaltungen, die seit Oktober 2024 Geld für die Erforschung von ME/CFS gesammelt haben. Alle Spendengelder gehen an die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS und an die WE & ME Stiftung, ebenfalls gegründet von Familienangehörigen von gleich zwei erkrankten Kindern.
Auch in Deutschland gibt es prominente Fürsprecher, die sich dafür einsetzen, mehr zu unternehmen im Kampf gegen ME/CFS. So äußerte sich etwa der Trompeter Reinhold Friedrich zur Erkrankung des jungen Trompeters Jan Equiluz: „Es tut mir sehr, sehr weh zu erfahren, was der junge Mann aus Wien, Jan Equiluz, erleiden muss und musste. Ich habe verschiedene schlimme Sachen im Umfeld von Covid-Erkrankungen gehört, aber das, was hier beschrieben wird, ist eine neue Dimension von Leid.“ Dagegen etwas zu tun, sei Verpflichtung der 99 Prozent der Nicht-Betroffenen: „Ich finde, dass die Leute, die nicht zu den ca. 800000 gehören, die diese Krankheit haben, sich um die Erkrankten kümmern müssen. Das ist immerhin 1% der Gesellschaft, deswegen ist es ein gesellschaftlich relevantes Problem und nicht das Problem einer Einzelperson.“
* Alle eingerückten Zitate von an ME/CFS Erkrankten oder Angehörigen stammen aus der Broschüre „Unser Leben mit ME/CFS – Ein kollektiver Erfahrungsbericht von Menschen mit Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue Syndrom“, hg. von Fatigatio e. V. – Bundesverband ME/CFS, Schriftenreihe Informationen, Konzepte und Erfahrungen Nr. 32, 1. Auflage 2023. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2025.