Schmitt-Weidmann, Karolin
Erlebnisräume
Bildung für Nachhaltige Entwicklung als Aufgabe musikalischer Bildung?
Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie die Bereiche der musikalischen Bildung und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) zusammenhängen und wie, wenn überhaupt, musikpädagogische Projekte zu nachhaltiger Entwicklung beitragen können.
Von „matter of fact“ zu „matter of concern“
„Climate change cannot be left to natural sciences!“1 Normative Appelle wie dieser erklären die Annahme als überholt, dass die Naturwissenschaften die Klimakrise allein werden lösen können: „Our belief that science alone could deliver us from the planetary quagmire is long dead.“2 Auch wenn der Bereich der Nachhaltigkeit in den Medien immer noch vorwiegend mit Naturschutz und Klima in Verbindung gebracht wird und damit zusammenhängende Forschungsergebnisse ventiliert werden,3 so heben einschlägige Debatten das Zusammenwirken von drei Nachhaltigkeitsbereichen als zentralen Schlüssel auf der Suche nach Lösungsansätzen für die Klimakrise hervor.
Dieses ganzheitliche Zukunftskonzept basiert auf einem idealtypischen Gleichgewichtszustand (Homöostase) von ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten.4 Der drittgenannte Bereich des Sozialen wird dabei als gleichrangig mit den prominenten Bereichen des Ökologischen (Umwelt, Klima, Ressourcenschonung, Nahrung) sowie einer gerechten ökonomischen Kapitalverteilung (Sach-, Wissens- und Humankapital, immaterielles Vermögen) angesehen.
Uwe Schneidewind spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Zukunftskunst“, mit der die Kompetenz gemeint ist, „das Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, politisch-institutionellen und kulturellen Dynamiken in Prozessen der großen Transformation zu verstehen und sie für das Projekt einer nachhaltigen Entwicklung fruchtbar zu machen“.5 Ähnlich wie Schneidewind begreift Marc Hübscher nachhaltige Entwicklung als eine Art Polyfonie der vier gleichberechtigten Instrumente des gesellschaftlichen Wandels – Technik, Ökonomie, Politik und Kultur –, wobei der kulturellen Dimension sogar zunehmend die tragende Rolle zugeschrieben wird: „Während vergangene Nachhaltigkeitsüberlegungen die technologische und ökonomische Dimension fokussieren und von dort aus die institutionelle Dimension und – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt die kulturelle Dimension berücksichtigen, beginnt die Zukunftskunst mit der kulturellen Dimension, in der die Entwicklung zuallererst als kulturelle Leitidee ausgeflaggt wird. Gesellschaftliche Ideen, Werte und Normen sind die Grundlage einer großen Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung.“6
Der Bereich der Kultur wird schließlich als „allumfassender Horizont für nachhaltige Entwicklung“7 aufgefasst, der ökologische, ökonomische und soziale Dimensionen inkludiert.8 Dies lässt sich auch daran erkennen, dass insbesondere die Klimakrise zunehmend nicht mehr als „matter of fact“, sondern vielmehr als „matter of concern“ inszeniert wird:9 Damit sich Menschen emotional und persönlich angesprochen fühlen und ihre Lebensweisen und alltäglichen Handlungen neu justieren, reichen Fakten nicht aus. Vielmehr braucht es eine persönliche Betroffenheit oder ein Anliegen, ein „matter of concern“.
Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE)
„Hochwertiger Bildung“ wird vor diesem Hintergrund die zentrale Schlüsselfunktion für eine erfolgreiche Ausgestaltung des eigenen beruflichen und privaten Lebens sowie für eine gesellschaftliche Mitwirkung und Mitverantwortung im globalen Rahmen zugeschrieben:10 „Die Weiterentwicklung des Rio-Prozesses für nachhaltige Entwicklung nach 2015 und dessen Zusammenführung mit den Folgeprogrammen großer UN-Projekte, wie den Millennium-Entwicklungszielen (MDGs), misst einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) wachsende Bedeutung bei. Durch die UNESCO wird in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass es im Interesse aller ist, sicherzustellen, dass Bildungsqualität den Kern einer Post-2015-Entwicklungsagenda ausmacht, da sie die bedeutendste transformative Kraft für eine zukunftsfähige Entwicklung ist.“11
Aus dieser Überzeugung heraus wurde „qualitative“ oder „hochwertige“ Bildung in die Reihe der 17 Sustainable Development Goals (SDG) der UN aus dem Jahr 2015 aufgenommen, die eine „inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des Lebenslangen Lernens für alle fördern“ möchte.12 Die UN fordert mit dem SDG 4.7 „Quality Education“ bis 2030 sicherzustellen, „dass alle Lernenden Wissen und Fertigkeiten erwerben, die benötigt werden, um nachhaltige Entwicklung zu fördern, einschließlich u. a. durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensformen, Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit, die Förderung einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, global citizenship und die Wertschätzung kultureller Vielfalt sowie den Beitrag von Kultur zu einer nachhaltigen Entwicklung“.13
Was aber hat es mit dem hier bereits aufscheinenden Begriff einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) auf sich? Dieser wurde im Rahmen einer Bildungsinitiative, die von der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 2016 durchgeführt wurde, aufgegriffen und ausgeprägt. Bildung für Nachhaltige Entwicklung möchte demnach einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen ihr Leben selbstverantwortlich gestalten, „und sie befähigen, als Bürgerinnen und Bürger sowie Konsumenten und Produzenten eine nachhaltige Ausrichtung ihrer Gesellschaft zu befördern, wobei sie sich gleichzeitig […] als Bürger Einer Welt begreifen (‚global citizenship‘)“.14
1 Klepp, Silja/Chavez-Rodriguez, Libertad: „Governing Climate Change. The Power of Adaption Discourses, Policies, and Practices“, in: dies. (Hg.): A Critical Approach to Climate Change Adaption. Discourses, Policies, and Practices, London/New York 2018, S. 3-34, hier: S. 23.
2 Sörlin, Sverker: „Environmental Humanities. Why Should Biologists Interested in the Environment Take the Humanities Seriously?“, in: BioScience, 62, 2012, S. 788-789, hier: S. 788.
3 vgl. auch Völker, Jonas: „Praxisinitiativen einer ökologischen Musikpädagogik im deutschsprachigen Raum. Ein Diskurs im Entstehen“, in: Diskussion Musikpädagogik, 102, 2024, S. 28-41, hier: S. 28.
4 vgl. Pufé, Iris: Nachhaltigkeit, Konstanz/München 2017, S. 40 und 113.
5 Schneidewind, Uwe: Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt am Main 2018, S. 32.
6 Hübscher, Marc C.: „Verhaltensökonomie, Zukunftskunst und beschränkte Rationalität“, in: Barth, Thomas/Henkel, Anna (Hg.): 10 Minuten Soziologie. Nachhaltigkeit, Bielefeld 2018, S. 153-165, hier: S. 155.
7 Ripple, Gabriele: „Konzepte kultureller Nachhaltigkeit“, in: Sippl, Carmen/Rauscher, Erwin (Hg.): Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren, Wien 2022, S. 33-51, hier: S. 36.
8 vgl. Anzengruber, Katharina: „Und was hat das mit Musik(-pädagogik) zu tun? Inter- und transdisziplinäre Experimentierräume im Zeichen einer Kultur der Nachhaltigkeit“, in: Diskussion Musikpädagogik, 102, 2024, S. 41-48.
9 Böhnert, Martin: „Climate Thinking: Klimakrise als ,Matter of Fact‘ oder ,Matter of Concern‘“, 2021, https://philosophike.de/2021/12/ climate-thinking-klimakrise-als-matter-of-fact-oder-matter-of-concern#_edn13 (Stand: 1.4.2025); siehe auch Latour, Bruno: „Why Has Critique Run Out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern“, in: Critical Inquiry, 30, 2004, S. 225-248, hier: S. 231-237.
10 vgl. KMK/BMZ: Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ergebnis des gemeinsamen Projekts der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 2004-2015, zusammengestellt und bearbeitet von Schreiber, Jörg-Robert/Siege, Hannes, Bonn 2016, S. 18 f. und 51.
11 ebd., S. 21.
12 Sustainable Development Goals der UN, 2016, www.un.org/sustainabledevelopment/education (Stand: 1.4.2025), Deutsche Übersetzung des BMZ: www.bmz.de/de/agenda-2030 (Stand: 1.4.2025).
13 https://sdg-indikatoren.de/4 (Stand: 1.4.2025).
14 KMK/BMZ, S. 51.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2025.