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Wermke, Kathleen

Am Anfang ist die Melodie

Musikalische Elemente in Babylauten

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 6/2025 , Seite 50

Musikalische Fähigkeit ist tief in das menschliche Genom eingebettet. Spuren zwei Millionen Jahre alter evolutionärer Prozesse, die dazu geführt haben, scheinen sich in Hörvorlieben und im Stimmrepertoire menschlicher Babys wiederzufinden.

Schon im Mutterleib ist der Fötus für musikalische Klänge empfänglich und vom Moment der Geburt an lautieren Babys „musikalisch“ – es ist ihre natürliche, instinktive Sprache. Diese besser zu verstehen, hilft Eltern im Umgang mit ihren manchmal lautstark „singenden“ Nachkommen. MusikpädagogInnen können gezielter auf den angeborenen musikalischen Fähigkeiten aufbauen, wenn sie mehr darüber wissen. Auch wird es MusikschülerInnen mit einem Baby in der Familie sicher beeindrucken, wenn sie erfahren, wie Melodieintervalle und melodische Konturen die Gehirnentwicklung von Babys fördert. Vielleicht motiviert es sie sogar, zu Hause mehr zu üben? Einen Versuch wäre es wert.

Wurzeln der Musikalität in ­unserer Evolutionsgeschichte

Anthropologen haben lange Zeit dem Ursprung der Musik und der Musikalität weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der Sprache oder der „Kunst“. Ein Aufschrei der Empörung begleitete 1994 die Hypothese des Harvard-Professors Steven Pinker,1 dass Musik nichts anderes sei als ein auditiver Käsekuchen („Cheesecake“); also nichts weiter als ein angenehmes Dessert, ein Beiprodukt des evolutionären Selektionsprozesses und nicht wesentlich für das Überleben oder die Fortpflanzung des Menschen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, sagt der britische Archäologe Steven Mithen.2 Musikalität sei ein grundlegender Bestandteil des menschlichen Seins; diese Fähigkeit sei sehr alt und eine ganzheitliche Protosprache des musikalischen Gefühlsausdrucks ist vor Millionen Jahren der gesprochenen Sprache vorausgegangen und war ein wesentlicher Vorläufer derselben. In seinen Büchern formuliert Mithen seine Theorie, wonach Sprache und Musik zwei Kommunikationsformen sind, die aus einem gemeinsamen Vorgängersystem hervorgegangen sind, das bereits beim Homo habilis3 verbreitet war.4 Und die Mutter-Kind-Bindung könnte dabei eine besondere Rolle gespielt haben.
Ellen Dissanayake,5 eine Anthropologin und Kinderpsychologin aus Seattle, glaubt, dass die Notwendigkeit einer intensivierten Mutter-Kind-Interaktion während der menschlichen Evolution dazu geführt haben könnte, dass eine musikalische Proto-Konversation entstand, die einen musikalischen Charakter hatte. Sie vermutet, dass dies sogar die eigentliche Quelle des Musizierens unter Erwachsenen und in der gesamten Gesellschaft gewesen sein könnte. Auch die amerikanische Paläoanthropologin Dean Falk6 sieht Wurzeln der Musikalität und Sprache in der Mutter-Kind-Beziehung, bei der Befindlichkeiten, Gefühle und Bedürfnisse in hohem Maße mit Hilfe der Stimme übermittelt werden. Der aufrechte Gang verengte anatomisch das Becken der Mutter und erschwerte, bei gleichzeitig zunehmender Gehirngröße und damit des Kopfumfangs der Föten, die Geburt. Babys mussten faktisch als „Frühgeborene“ auf die Welt kommen. Aufgrund ihrer motorischen Unreife und des gleichzeitigen Verlusts des mütterlichen Fells zu jener Zeit, wodurch ein selbstständiges Festhalten am mütterlichen Körper nicht mehr möglich war, waren Babys zum Überleben auf eine enge Bindung an die Mutter bzw. die Gemeinschaft angewiesen.
Wie auch heute noch provozierte das zeitweilige Ablegen der Babys und der fehlende Körperkontakt zur Mutter mit großer Wahrscheinlichkeit auch damals schon unüberhör­baren kindlichen Protest. Akustisch zu protestieren und Stimmfühlung zu nehmen, hatte den großen Vorteil, dass die kindlichen Botschaften die Mutter bzw. eine andere Bezugsperson auch in etwas weiterer Entfernung, unabhängig von einem bestehenden Sichtkontakt, und selbst im Dunkeln erreichen konnten.

1 Pinker, Steven: The Language Instinct. How the Mind Creates Language, New York 1994 (Der Sprachinstinkt: wie der Geist die Sprache bildet, München 1998).
2 Mithen, Steven: The Singing Neanderthals: The Origins of Music, Language, and Body, Cambridge 2006.
3 Homo habilis: frühe Art der Gattung Homo, die erstmals 1960 anhand einiger Schädelbruchstücke aus der Olduvai-Schlucht in Tansania beschrieben wurde. Sein Alter wird auf 2,1 bis 1,5 Miillionen Jahre datiert. Quelle: www.spektrum.de/lexikon/biologie-kompakt/homo-habilis/5607 (Stand: 23.10.2025).
4 Mithen, Steven: The Language Puzzle: Piecing Together the Six-Million-Year Story of How Words Evolved, New York 2024.
5 Dissanayake, Ellen: „Ancestral human mother-infant interaction was an adaptation that gave rise to music and dance“, in: Behavioral and Brain Sciences, Volume 44, 2021, e68, doi: 10.1017/S0140525X20001144
6 Falk, Dean: Finding Our Tongues: Mothers, Infants, and the Origins of Language, New York 2009 (Wie die Menschheit zur Sprache fand: Mütter, Kinder und der Ursprung des Sprechens, München 2010).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2025.

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