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Widmaier, Martin

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Ein Systemmodell für die Unterrichtsdeutung

Rubrik: Didaktik
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 54

Lehrversuch A erfüllt fast alle ­„Kri­terien für guten Unterricht“ – und ist schwach. Lehrversuch B steht im Widerspruch zu fast allen diesen Kriterien – und ist stark. Spricht es für Kriterienkataloge, dass sie sich Punkt für Punkt abhaken lassen? Oder sind sie schlicht ungeeignet für die Unter­richtsdeutung?

Beginnen wir mit einer Bastelstunde – versuchen wir, ein Systemmodell zu entwickeln, das zuverlässig dabei hilft, die Stärken und Schwächen von Unterricht aufzuspüren. Ein solches Systemmodell müsste alles auf einmal sein: „theoriegebunden“ und „sachverhaltsnah“; „lückenlos“ und „so sparsam wie möglich“; in der Lage, sowohl „die vorfindbare Praxis theoretisch aufzuklären“ als auch „aus der Theorie eine ihr erkennbar zugehörige Wirklichkeit zu generieren“; es müsste die Unterrichtswirklichkeit vollständig einfangen und gleichzeitig „eine Idee von gelungenem Unterricht“ in sich bergen; und „bei alledem“ dürfte es „den aktuellen Forschungsstand“ nicht ignorieren.1 Kurz: Dieses Systemmodell wäre ein zum Leben erwachter Traum. Zwar wissen wir noch nicht, ob unser Ziel erreichbar ist… aber in Sicht wird es schon kommen!

Daten gewinnen und sortieren

Um eine belastbare Datenbasis zu gewinnen, treten wir einen Schritt zurück und fragen die am Unterricht beteiligten Menschen – Lernende wie Lehrende – nach deren Wertvorstellungen, machen also eine empirische Studie. Folgende Sätze sollen ohne langes Grübeln ergänzt werden:2
– „Ich fühle mich im Unterricht wohl, wenn…“
– „Ich fühle mich im Unterricht unwohl, wenn…“
Nun versuchen wir, die gewonnenen Daten (getrennt für Lernende und Lehrende) mit­einander abzugleichen und auf möglichst weni­ge Körbe zu verteilen. Die Ausbeute der zahlreichen geduldig durchgeführten Versuchsreihen ist bemerkenswert:
1. wird deutlich, dass Lernende und Lehrende im Großen und Ganzen dieselben Wertvorstellungen pflegen;3
2. zeichnet sich ab, dass es genau vier Körbe braucht, um unsere Daten sinnvoll zu ordnen: Lebendigkeit – Vertrauen – Klarheit – Kompetenz.4
Zur Kontrolle wiederholen wir die Befragung und bitten Dritte, die Daten „nach thematischen Ähnlichkeiten“ zu sortieren. Die Befunde bleiben dieselben.5

Plausibilität prüfen

Wie muten die vier Werteklassen an? Wie ein Gemischtwarenladen? Pfeffer und Salz, Äpfel und Birnen? Sicherheitshalber ist das Sortiment auf Plausibilität zu überprüfen. Zu diesem Zweck konsultieren wir zwei Fachkräfte: Hartmut von Hentig und John Hattie.6
Hartmut von Hentig ist ein bedeutender Reformpädagoge. Dass unsere Tetras (unsere Vierheit) keineswegs bunt zusammengewürfelt, sondern mit einiger Stringenz komponiert ist, zeigt sich, wenn wir sie mit dem bekannten Hentig-Diktum „die Menschen stärken, die Sachen klären“ kurzschließen:7
– Im Umgang von Mensch zu Mensch herrscht die wünschenswerte Lebendigkeit – dieser Umgang ist von Vertrauen geprägt.
– Im Umgang mit der Sache herrscht die wünschenswerte Klarheit – dieser Umgang ist von Kompetenz geprägt.
Oder so:
– Die Lehrkraft stellt die Lebendigkeit des Geschehens sicher und operiert mit einem Vertrauensvorschuss.
– Sie stellt auch die Klarheit des Verstehens sicher und operiert mit einem Kompetenzvorsprung.
Ganz nebenbei hat unser Besuch bei Hartmut von Hentig geklärt, dass zwei der genannten Werteklassen menschlich, die anderen beiden sachlich orientiert sind. – Weiter zu John Hattie, einem gegenwärtig überaus einflussreichen Bildungsforscher. In seinen Top Ten der lernrelevanten Einflussgrößen (Version 2012) finden sich genau zwei Kennzeichen der Lehrperson:8
Glaubwürdigkeit (?) und Klarheit (✓)
Für das Kennzeichen „Glaubwürdigkeit“ werden vier Schlüsselfaktoren genannt:
Vertrauen (✓), Kompetenz (✓), Dynamik (?) und Unmittelbarkeit (?)
Die Schlüsselfaktoren „Dynamik“ und „Unmittelbarkeit“ lassen sich zwanglos mit dem noch fehlenden Basiswert gleichsetzen:
Lebendigkeit (✓)
Somit geben sich unsere vier Basiswerte ein heiteres Stelldichein bei John Hattie – was nichts beweist, jedoch zu denken gibt.

1 Wolfgang Sehringer/Petra Scheltwort: Unterrichten: Reflexion und Training. Ein Modell zur Evaluation und Innovation des Lehrens, Donauwörth 2004, S. 6, 13, 22 und 26.
2 ebd., S. 32.
3 ebd., S. 38.
4 ebd., S. 39. Das Buch spricht in erster Linie von vier „Basiswerten“, bedeutungsgleich aber auch von vier „Faktoren“, „Werteklassen“, „Qualitäten“ oder „Komponenten“.
5 Petra Scheltwort/Wolfgang Sehringer: „Lehrerhandeln im Unterricht. Unterricht wahrnehmen, beurteilen, gestalten“, in: Perspektiven zur pädagogischen Professionalisierung 69 (2/2005), S. 33-41, hier: S. 35.
6 In Sehringer/Scheltwort erfolgt die Plausibilitätsprüfung über klassische philosophische, aktuelle didaktische und kommunikationspsychologische Konzepte
(S. 40-43), nicht via Hentig und Hattie.
7 Eine Anführung des Hentig-Diktums in Sehringer/ Scheltwort (S. 30) scheint mir zu bestätigen, dass die Herstellung eines entsprechenden Bezugs nicht sachfremd ist.
8 John Hattie: Visible learning for teachers. Maximizing impact on learning, London/New York 2012. Zur Version 2012 der Hattie-Top-Ten s. auch visible-learning.org/ glossary und visible-learning.org/de/glossar-hattie-begriffe (jeweils abgerufen am 18. Mai 2017). Wenn Sehringer und Scheltwort mit Blick auf den schulischen Klassenunterricht betonen, dass „effektives Unterrichten“ nicht an „einen bestimmten Unterrichtsstil […] oder eine bestimmte Lehrstrategie“ gebunden ist (S. 7), dann lässt sich das seit Hattie zum Teil konkretisieren, zum Teil relativieren.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2020.