Wilson, Richard
A Child’s London
Narrated Suite for Piano
Die Bewertung einer Situation ist eine generelle Frage der Perspektive des Betrachters – was für den einen eine Horrorvorstellung ist, kann für den anderen ein reizvolles Unterfangen sein. So mutet für Eltern die Ausgangssituation der kleinen erzählerischen Rahmenhandlung von Richard Wilsons „Narrated Suite for Piano“ alptraumartig an: Die achtjährige Katherine geht in London verloren. Für das Kind beginnt jedoch ein aufregendes Abenteuer…
Der in diversen Genres versierte Komponist Wilson schrieb die siebensätzige Klaviersuite für seine damals achtjährige Tochter; die kurzen Stücke sollten – nicht ohne musikpädagogische Hintergedanken, wie sich beim Üben zeigen wird – kleine Ausschnitte aus der Lebenswirklichkeit des Kindes beschreiben. So entstanden Momentaufnahmen einzelner London-Stationen, die Wilson in sehr gut liegende Kleinode mit didaktisch gut abgestimmten klaviertechnischen „Problembehandlungen“ transformierte. Seien es artikulatorische Kontraste wie z. B. legato-staccato im Verbund mit dynamischen Gegensätzen („London Bus“), seien es rhythmisch-agogisch besondere Momente („Primrose Hill Park“), die die Atmosphäre der erzählten Geschichte bzw. des besonderen Orts nachfühlen lassen. Oder sei es die gekonnte Wellenbewegung einerseits im Legatospiel innerhalb je einer Hand, dann im leicht versetzten Differenzieren dieser Linien zwischen beiden Händen („On Regent’s Canal“), die in ihrer leicht sperrigen Melodik und dem schaukelnden Charakter zugleich das Spiel der Wellen des Kanals wie das doch irgendwie „behagliche“ Unwohlsein eines kleinen Mädchens verdeutlichen.
Wilson zeichnet liebevolle Miniaturen, die harmonisch keineswegs harmlos daherkommen und so trotz der scheinbaren Banalität der Struktur immer spannend bleiben. Dabei kann man mit entsprechend wachen Schülerinnen und Schülern durchaus auch die kompositorischen Strukturen unter die Lupe nehmen: Den Blick für feine Dinge kann auch ein entsprechend angeleitetes Kind zwischen acht und zehn Jahren schon haben. So ist beispielsweise die das Stück dominierende Bassfigur in „Costumes at the Victoria and Albert“ besonders lohnend, zeigt das feinnervige Verstehen des Historischen besonders anschaulich. Wechselnde Stimmungen finden sich im mit viel Fantasie und Witz komponierten „Tact and Diplomacy“, ein geradezu furioser Abschluss im temperamentvollen Schluss „Roundabout“.
Richard Wilsons A Child’s London ist mit viel Fantasie und einem wunderbar offenen Blick für Details klar und gut strukturiert komponiert, lohnt auch als Vortragsstück mit Erzähler das Studium für den motivierten Klavierschüler, der noch nicht weit fortgeschritten sein muss, aber auch kein Anfänger mehr sein darf. Der Satz ist jeweils gut durchdacht, die Fingersätze sinnvoll und praktikabel. Eine wertvolle Bereicherung der Unterrichts- und Vortragsliteratur.
Christina Humenberger