Joost-Plate, Christiane

„Aaah, da klingt so gute mir“

Einladung in eine inklusive Violinstunde

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2018 , Seite 32

Mit diesem Beitrag möchte Christia­ne Joost-Plate die Leserinnen und Leser direkt in eine inklusive Unter­richtssequenz mit einbeziehen, um ein un­mittelbares Erleben zu ermöglichen. Im Anschluss daran erfolgt eine Reflexion der am häufigsten gestellten Fragen.

Donnerstagabend. Schon etwas erschöpft von sechs Stunden Instrumentalunterricht erwarte ich meine Schülerin Nadja, eine 22-jährige zarte Frau mit Down-Syndrom, die – wie immer – überpünktlich und überaus strahlend mit ihrer Geige und Umhängetasche vor mir steht. Ihre Freude ist unglaublich ansteckend; wir umarmen uns zur Begrüßung, schauen uns fröhlich an und die Unterrichtsstunde beginnt.

Einstimmung

Zunächst geht Nadja zu ihrem angestammten Auspackplatz. Jetzt heißt es für mich: Ruhe bewahren und besser nicht eingreifen. Denn Nadja braucht fast 15 Minuten, um ihren Geigenkasten zu öffnen, das Instrumentendeckchen vom Instrument zu nehmen, zusammenzufalten, auf die Ablage zu legen, „Nein, so nich, anders“1 zu brummeln, von dort wieder weg zu nehmen und in ein bestimmtes Fach im Geigenkasten zu stecken, die Geige aus dem Kasten zu holen, an die Wand zu lehnen, meine erschreckte Reak­tion: „Oh, leg sie besser hin, damit sie nicht umfällt!“ mit „Nich Stress bitte, ich kann es!“ zurückzuweisen, den Bogen aus der Halterung herauszunehmen, neben die Geige zu legen, Kolophonium aus dem Fach im Geigenkasten herauszuholen, den Geigenbogen einzustreichen, das Kolophonium ins Fach zurückzustecken, meinen heimlichen Versuch, die Geige schon einmal zum Stimmen hochzunehmen, vollkommen zu unterbinden mit: „Gleich, gleich. Nich Stress bitte!“ und hoch konzentriert die Schulterstütze an die Geige zu bauen, Geige an- und wieder abzusetzen, weil nun die Notenhefte aus der Tasche herausgeholt werden müssen.
Gleich ist alles geschafft. Nadja geht durch den Raum, um den Notenständer ihren Vorstellungen gemäß richtig zu positionieren. Diese variieren einfallsreich. Nun ist alles wunschgemäß vorbereitet, ich bekomme die Geige zum Stimmen und der Unterricht kann beginnen. Nadja ist hoch motiviert und erwartungsvoll – und ich kann wieder normal atmen.
Der Unterrichtsverlauf ist ebenso strukturiert wie die vorhergegangene Vorbereitung; alles hat seine Ordnung, seine Reihenfolge, sein Programm. Dies immer wieder durchschauen zu können, sich an Details, Episoden zu erinnern, bereitet Nadja große Freude und gibt Klarheit.
Instrumentalschülerinnen und -schüler (und sicher nicht nur sie) haben meist irgendwelche individual-spezifischen Schwierigkeiten, mit denen sie in den Unterricht kommen. Das ist normal und für uns Instrumentalpädagoginnen und -pädagogen als Aufgabe zu verstehen, ihnen im Unterricht angemessen zu begegnen. Nadjas Thema ist – bedingt durch ihren Wunsch, alles „gut zu machen“ bzw. durch die Angst, dies nicht zu schaffen – eine latente Grundanspannung (Hypertonie), die sich in jeder Muskelfaser widerspiegelt. Diese ist häufig bei Menschen mit Down-Syndrom zu erkennen, die von ihrer Konstitution her eher zu einer Hypotonie (Unterspannung) neigen.
Das scheint paradox; aber durch die sehr gute Förderung heutzutage, durch Einbeziehung in ein ganz normales, facettenreiches Leben, durch die wachsende Kompetenz und Selbstbestimmtheit entsteht einerseits das große Glück einer vielseitigen gesellschaft­lichen Teilhabe, andererseits aber auch das ­Risiko einer individuellen Überfo(e)rderung. Diese zeigt sich dann wie bei Nadja in einer enormen Erhöhung ihres gesamten Tonus: Die Beine zittern beim Stehen, die Schultern sind nach oben und nach vorn gezogen, der Hals ist fast verschwunden und der Rücken dabei wie ein Schutzschild gekrümmt, die Fingerglieder von rechter und linker Hand wirken erstarrt. Und aus dieser „Festung“ strahlt mich trotz allem erwartungsvoll eine Nadja an, die mit ihrer Geige Musik machen möchte – und zwar alle Musik dieser Welt, die sie liebt.

 

Zuerst erschienen in: Spektrum Inklusion – Wir sind ­dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, Grundlagen und Arbeitshilfen, hg. vom Verband deutscher Musikschulen, Bonn 2017. Wir danken Verlag und Autorin für die freundliche Nachdruckgeneh­migung.

1 Alle Zitate von Nadja geben ihre Sprache so wieder, wie ich sie höre und verstehe.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2018.