Hirsch, Markus

„Ach, wie gut, dass niemand weiß…“

Gedanken zur Nichtplanbarkeit von Unterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2015 , Seite 12

Die Theorien der Didaktik erzählen seit mehr als 200 Jahren das Märchen von der Planbarkeit von Unterricht. Erzählungen über Nichtplanbarkeit spielen eher eine untergeordnete Rolle.

„Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind.“1 Rumpelstilzchen hat einen Plan. Leider geht dieser Plan nicht auf, doch woran liegt das? Ist die Planung an sich schlecht oder nur schlecht durchgeführt? Die Frage ist eindeutig zu beantworten. Rumpelstilzchen vereinbart mit der Königin klare Regeln und hält diese auch ein. Drei Tage hat die Königin Zeit, seinen Namen zu erraten. Neben der täglichen Visite im Schloss überbrückt Rumpelstilzchen die Zeit mit anderen nützlichen Tätigkeiten: backen und brauen. Der Plan verfolgt zwar böse Absichten, ist aber allem Anschein nach gut durchdacht und auch konsequent umgesetzt. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass Rumpelstilzchen bereits bei der Planung einen entscheidenden Fehler macht: Es geht mit hundertprozentiger Sicherheit von einem Gelingen aus. Kurz gesagt: Rumpelstilzchen hat keinen Plan B.
In der Psychologie wird unter dem Rumpelstilzchen-Effekt2 ein unrealistischer Planungs­optimismus verstanden. Die Überschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit und der Durchführbarkeit von Plänen führt dazu, dass keine Vorkehrungen für mögliche Störungen getroffen und keine alternativen Vorgehensweisen entwickelt werden. Im Hinblick auf Unterricht lädt der Fall Rumpelstilzchen dazu ein, der Frage nach der Planbarkeit und entsprechend auch der Nichtplanbarkeit etwas weiter nachzugehen.

Pläne schmieden

Wendet man den Blick von der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm in das ebenfalls von diesen begonnene Deutsche Wörterbuch, so findet man im Teilband von 1889 über die Wortbedeutung von „Plan“ u. a. folgende Eintragungen: „die ebene, fläche, […] mhd. besonders die wiese, […] übertragen auf die fläche oder den raum der erde, des himmels, äthers, meeres […]. a) turnier-, kampfplatz […]. b) schieszplatz […]. c) tanzplatz […]. d) öffentlicher platz in einem orte, der kirch-, marktplatz. […] darnach verallgemeinert der grund- und umrisz, der entwurf und anschlag zu einer arbeit oder unternehmung der verschiedensten art, mag er nun aufgezeichnet, mündlich entwickelt oder nur in gedanken gemacht sein.“3
Was man nach Grimm mit einem Plan alles tun kann, liest sich wie eine Litanei von Möglichkeiten, die allesamt auch für die Planung von Unterricht zutreffen können: „einen Plan machen, fassen, legen, anlegen, erfinden, ersinnen, schmieden, entwickeln, erwägen, prüfen, begreifen (fassen), loben, tadeln, unternehmen, verfolgen, ausführen, durchsetzen, verraten, vereiteln, stören, verhindern, vernichten, von einem plane abstehen, ihn aufgeben, verwerfen, ihm entsagen“.4
In der Auflistung der Verben bei Grimm sind drei Umgangsweisen erkennbar, die auch in der Didaktik im weiteren Sinne zur Planbarkeit von Unterricht gehören: die Trias aus Planung, Durchführung und Reflexion. Was meint nun Nichtplanbarkeit von Unterricht? Zwei Auslegungsmöglichkeiten bieten sich an:
1. Unterricht ist prinzipiell nicht planbar, weil sich Lehr- und Lernprozesse grundsätzlich nicht verfügbar machen lassen. – Das ist Unsinn. Es widerspricht jeder Erfahrung.
2. Unterricht ist prinzipiell planbar, aber in der Durchführung kann Überraschendes passieren. – Diese Erfahrung kennt jede Lehrkraft. Rumpelstilzchen als didaktischer Laie hingegen hat bei seiner Planung damit nicht gerechnet.

1 Gebrüder Grimm: „Rumpelstilzchen“, in: Christian Stich (Hg.): Das große Märchenbuch, Zürich 2012, S. 370-374, hier: S. 374.
2 Harald Schaub: „Störungen und Fehler beim Denken und Problemlösen“, in: Joachim Funke (Hg.): Denken und Problemlösen (= Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 8), Göttingen 2006, S. 447-482, hier: S. 448 und 463.
3 Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 13 (= Nachdruck der Erstausgabe, Bd. 7, Leipzig 1889), München 1991, Sp. 1883-1886, hier: Sp. 1883-1885; Stichwort Plan.
4 ebd., Sp. 1885.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2015.