Wiedemann, Herbert
Aktives Hören
Klavierspielen lernen nach Gehör
Unter (älteren) Erwachsenen wächst das Bedürfnis, ein Instrument zu erlernen. Dabei erfreut sich das Klavier besonderer Beliebtheit. Liegt das Interesse der Lernenden vorwiegend im Bereich klassischer Literatur, wird ein traditioneller Unterricht nach Noten zielführender sein. Für diejenigen jedoch, die eher Interesse an Liedern, Pop-, Folk- und Jazzstandards oder Freude am Improvisieren haben, ist ein Spielen und Lernen nach Gehör die adäquatere Lernform.
Viele erwachsene AnfängerInnen und WiedereinsteigerInnen auf dem Klavier äußern den Wunsch, sich einfach ans Klavier setzen und ohne Noten („playing by heart“) spielen zu können. Für solche SchülerInnen hat sich in der Unterrichtspraxis eine Methode bewährt, Melodien oder Stücke, die den Lernenden bekannt sind und die sie im Idealfall auch singen können, ohne Noten, nach Gehör zunächst mit der rechten Hand einstimmig zu spielen und gleichzeitig mit Text oder Tonsilben zu singen. Die rhythmische Klarheit des Spiels wird erleichtert, wenn die linke Hand oder der linke Fuß leicht die Viertel klopft. Handhaltung und Fingersatz sollten frühzeitig thematisiert werden.
Für die Auswahl der Stücke kann es hilfreich sein, wenn die Lehrperson einige der in Frage kommenden Stücke in einfacher Form (rechte Hand Melodie, linke Hand Akkorde oder Basstöne) vorträgt und der Schüler oder die Schülerin je nach Neigung und Vorkenntnis ein Stück wählt. Das Repertoire sollte den klaviertechnischen Stand der Lernenden berücksichtigen. In Frage kommen vor allem Volkslieder, einfache klassische Klavierstücke, Popsongs, melodiöse Jazzstandards, Spirituals oder Bluesstücke. Eine versierte Lehrkraft kann Stücke aus diesem Repertoire auch gemäß der Fähigkeiten und technischen Möglichkeiten ihrer erwachsenen SchülerInnen arrangieren.
Melodiegedächtnis schulen
Spielen nach Gehör entwickelt bei Lernenden das Melodiegedächtnis und die innere Klangvorstellung. Manche Erwachsenen, die nach dieser Methode lernen, berichten, dass sie innerlich singen. Dies zeigt die Entwicklung der Klangvorstellung, die für eine musikalisch befriedigende Umsetzung auf dem Klavier nötig ist. Um diese Unterrichtsmethode erfolgreich zu praktizieren, sollten Lehrkräfte über ein Repertoire an Stücken verfügen, die sie auswendig präsentieren können, und in der Lage sein, sie einfach zu arrangieren.
Idealerweise beginnt der Unterricht mit dem gemeinsamen Singen der Melodie. Dies kann zunächst, je nach Kenntnis, mit Text oder auch nur mit Scat-Silben geschehen. Dabei ist es wichtig, eine eher tiefere und gesanglich bequeme Tonart zu wählen, die für die Realisierung am Klavier wenig Vorzeichen haben sollte. Bei Bluesstücken und Spirituals eignen sich wegen der oft pentatonischen melodischen Gestaltung Ges-Dur oder es-Moll sehr gut. Von Vorteil ist es, mit Text zu singen, weil sich durch die Silben, Vokale und Konsonanten auf natürliche Weise Taktbetonungen und andere Akzente ergeben.
Unterstützt von der Lehrperson spielen die Erwachsenen die Melodie mit der rechten Hand und singen gleichzeitig dazu mit Text oder Scat-Silben. Hilfreich kann sein, wenn die Lehrperson die Melodie eine Oktave höher oder tiefer ebenfalls mit der rechten Hand mitspielt.
Um den Puls des Stücks zu spüren oder die rhythmische Gestalt der Melodie zu erfassen, hilft es, die Viertel mit der linken Hand oder mit dem linken Fuß zu klopfen. Als Vorübung bietet sich an, im Raum in Vierteln zu gehen, gleichzeitig leicht in die Hände zu klatschen und dazu das Lied zu singen. Auf diese Weise entsteht bei den Lernenden eine rhythmisch klare innere Vorstellung des Stücks. Die Einbeziehung von Trommeln und einfachen Rhythmusinstrumenten kann den Unterricht spielerisch bereichern. Auch für Fortgeschrittene können solche Übungen eine gewinnbringende Erfahrung für eine rhythmisch prägnante Gestaltung sein. Sofern das Rhythmusgefühl von erwachsenen SchülerInnen noch wenig entwickelt ist, sollten elementare Rhythmusübungen als Vorbereitung zum Spiel am Klavier fester Bestanteil des Unterrichts sein.
Geeignete Bassbegleitung finden
Nach den vorbereitenden Melodie- und Rhythmusübungen ist es an der Zeit, dass die linke Hand die Begleitung der Melodie übernimmt. Da einfache Lieder häufig mit der Grundkadenz I-IV-V in Dur oder Moll auskommen, können drei Finger der linken Hand stumm auf die Basstöne der drei Grundakkorde gelegt werden. Dann sucht der Schüler oder die Schülerin die jeweils passenden Basstöne gemeinsam mit der Lehrkraft und schlägt sie in Vierteln an. Zu entscheiden, an welcher Stelle die vorgeschlagenen Basstöne jeweils zur Melodie passen, ist eine hervorragende Hörübung.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2023.