Rittner, Hardy

Alles nur geträumt?

Wie ein Meister sein sollte – ein Traum

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2012 , Seite 17

Ein Meister ist kein Spezialist! Und muss nicht alles können! Ein Traum von Meisterinnen und Meistern, die man nie vergisst…

In diesem Beitrag geht es um den so genannten Meisterklassen-Unterricht, der den zentralen Kern einer künstlerischen Ausbildung darstellt. Meisterklasse, Meisterkurse, Meisterschüler: Wie habe ich diese Bezeichnungen einmal gehasst, implizieren sie doch das denkbar größte Gefälle zwischen Lehrkraft und SchülerIn. Der Meister oder die Meisterin auf der Sonnenseite, der Schüler oder die Schülerin als ein kleines Etwas, das die Gnade der Anhörung erfährt.
In der Tat ist meine Erfahrung, dass viele der so genannten Meister ihren Meisterstatus und die damit verbundenen Meisterprivilegien gern und mit großer Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen, dabei aber oft wenig Meisterliches vermitteln können, im Unterricht lustlos wirken und die jährlich bzw. halbjährlich anfallenden Aufnahmeprüfungen als den denkbar härtesten Schicksalsschlag der Welt beklagen. Als ich nun, viele Jahre nach meiner eigenen Ausbildung, gebeten wurde, über dieses Thema zu schreiben, habe ich sofort zugesagt. Ich wollte den Finger in die Wunde legen, die Gefahren und Missstände schildern, die diese Art des Studiums in sich birgt, die Mängel aufzeigen, schildern, was ich selbst erlebt und für nicht gut befunden habe. Auf der Suche nach Negativem bin ich im Geiste meine Lehrer durchgegangen, immer wieder und wieder. Viel ist mir dabei eingefallen, viel Unerfreu­liches, von dem zu berichten sicher sinnvoll wäre. Zu meiner eigenen Überraschung fand ich die Negativausrichtung meiner Gedanken jedoch anstrengend und ermüdend und ich fragte mich, ob man so einen Text mit Freude und Gewinn lesen würde.
Eines Nachts hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich träumte davon, einem wirklichen Meister begegnet zu sein. Einem Meister, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient, jemandem, der den Meister in uns selbst zu wecken berufen ist. Und wenn ich mich recht erinnere, dann kamen in meinem Traum sogar mehrere Meister vor, die alle ganz unterschiedlich waren. Anstatt nun zu erörtern, wie ein Meisterklassenunterricht nicht sein sollte, will ich versuchen, mich an meinen Traum zu erinnern, und will davon erzählen, welche Attribute die großen Meister hatten, die ich dort gesehen habe.

Ein Meister ist kein Spezialist!

Der Ruf eines Spezialisten ist schnell erworben. Hat jemand zwei CDs mit dem gleichen Komponisten herausgebracht, kann er bereits als solcher bezeichnet werden. Leider habe ich viele Spezialisten erlebt, die sich im Unterricht völlig rat- und ideenlos im Umgang mit Musik zeigten, auf die sie angeblich spezialisiert waren. Und zwar auch solche, die ihren Spezialistenruf durch das im Leben Geleistete mit Recht trugen. Ich behaupte: Echte Meister sind keine Spezialisten für eine bestimmte Musik – und das brauchen sie auch gar nicht zu sein. Ein Meister versteht die Musik. Während der Spezialist auswendig weiß, dass in den Noten beispielsweise calando steht und darauf hinweist, versteht der wahre Meister die Funktion und damit den Sinn des calando und kommt zu entsprechenden interpretatorischen Lösungen, die das calando plausibel machen. Auf diesem Weg wird er finden, wo und auf welche Art sich die Musik zuvor mit Energie aufgeladen hat, den inneren Grund für den späteren calando-Abbau. Ebenso wird er Wege für eine überzeugende Fortsetzung nach dem calando aufzeigen. Er kann jede Synkope, jeden Akzent etc. mit Leben füllen. Er richtet die Musik von innen heraus, denn er versteht ­ihre Energie, ihre Funktion und ihre Sprache. Er spricht mit ihr und sie spricht mit ihm. Daran ist ein Meister immer zu erkennen.

Ein Meister muss nicht alles können!

Er muss kein Analytiker und Bauchmusiker sein. Er muss kein Musikwissenschaftler sein. Er muss nicht einmal das entsprechende Inst­rument spielen können. Aber er schöpft alles aus der Liebe zur Musik. In seiner Liebe zur Musik ist er Meister. Aus ihr schöpft er seine Lehre und Kreativität. Deshalb ist sein Wissen auch nie zu Ende. Es ist kein fertiges Paket, das, wenn es einmal ausgepackt ist, nichts mehr enthält. Ein Meister wird dir auch nach zehn Jahren noch völlig neue Dinge sagen können. Denn er lernt nie aus, sondern schöpft selbst immer neu.

Ein Meister versucht nicht, irgendetwas zu sein, er ist einfach im Moment!

Es reicht, wenn ein Lehrer ganz er selbst und ganz im Moment ist. Zu extensives Nachdenken über die Richtigkeit des Gesagten, des eventuell noch zu Sagenden, zu viele Fragen an sich selbst, ob kleingliedrigere Unterbrechungen besser wären oder mehr Spielfluss des Schülers, blockieren den Fluss des Augenblicks und hinterlassen ein unsicheres, unbefriedigendes Gefühl auf beiden Seiten. Ein Meister denkt über seinen Unterricht nach und forscht nach Wegen der Verbesserung – aber er tut dies allein und nicht in Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2012.