Wersin, Michael

Am Anfang war der Dreiklang

Eine Harmonielehre mit Hörbeispielen, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Carus/Reclam, Stuttgart 2016
erschienen in: üben & musizieren 5/2016 , Seite 55

Als „strammen Marsch durch die Geschichte der Harmonik“ bezeichnet Michael Wersin sein neues Buch. Als „Harmonielehre mit Hörbeispielen“ soll es „die Ebene der Harmonik in der Musik ein wenig verständlicher“ machen. Der Buchtitel lässt zunächst stutzen. Ist er musikhistorisch gemeint? Oder bezieht er sich nur auf die methodische Vorgehensweise?
Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis hilft weiter. Das erste Kapitel heißt wie das Buch, doch der Untertitel stellt die lapidare Feststellung sogleich in Frage: „Oder doch nicht?“ Nach 17 weiteren Kapiteln, die mit konkreten Musikbeispielen von der Renaissance bis zur Moderne führen, trägt der Schlussabschnitt die resümierende Überschrift: „Mit den Dreiklängen am Ende“. Aber in raffinierter Umkehrung der ein­leitenden Antithetik folgt auch hier der skeptisch nachhakende Subtitel: „Oder doch nicht?“ Ein klug über bloße Stoffbeschränkung hinausgehender Ansatz.
Wersin ist Dozent an der Kirchenmusikschule St. Gallen und Professor für Musikgeschichte am Vorarlberger Landeskonservatorium Feldkirch. Dass er seine Harmonielehre „abendländischer“ Kunstmusik der vergangenen Jahrhunderte mit dem Dreiklangsphänomen beginnt, ist durchaus sinnvoll. Die absichtliche Begrenzung auf Terzschichtungsstrukturen bei akkordischer Analyse erlaubt bei der Betrachtung konkreter Musikbeispiele auch Seitenblicke auf andere Parameter und den musikalischen Kontext.
Zielstrebig führt Wersin von der Entstehung der Dreiklangsharmonik über ihre zunehmende Ausdifferenzierung bis zu ihrer Auflösung. Bei der Erläuterung der wichtigsten Erscheinungsformen harmonischer Struk­tur in europäischer Kunstmusik wird auch die historische Bedingtheit von Ordnungsprinzipien thematisiert. Nach der Klärung elementarer Begriffe und satztechnischer Phänomene wird schnell deutlich, dass Regeln keine überzeitliche Geltung im Sinne von Naturgesetzen beanspruchen können, sondern geschichtlichem Wandel unterworfen sind.
Wersin betrachtet Harmonik nicht isoliert, sondern als integ­ralen Bestandteil des gesamten Satzes im Zusammenwirken mit anderen Parametern und im Blick auf die musikalische Aussage der Werke. Seine Harmonielehre ist kein herkömmliches Lehrbuch mit Lösungsaufgaben. Interessierten Musikliebhabern ermöglicht es ein besseres Verständnis harmonischer und satztechnischer Zusammenhänge. Musikstudierenden und angehenden MusikwissenschaftlerInnen kann es als einführender Wegweiser dienen, der auch „Werkzeuge zur weiteren Erkundung der bunten Welt der Harmonik“ bereitstellt. Insgesamt bietet es einen guten Überblick und vermittelt faszinierende Einsichten. Alles ist fasslich formuliert und auch für Laien gut verständlich dargestellt. Notenbeispiele und eine CD mit 99 Tracks ergänzen spannende Einblicke in ausgewählte Werke und helfen, sie zu erkunden.
Werner M. Grimmel