Bossen, Anja

Auf dem Weg zum „Dr. mus.“

Susanne Rode-Breymann, Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, erläutert die Bedeutung künstlerischer Forschung

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 1/2017 , Seite 42

Liebe Frau Rode-Breymann, die Rektorenkonferenz der Musikhochschulen hat kürzlich die politische Forderung erhoben, dass im Qualifikationsrahmen für Deut­sche Hochschulabschlüsse künstle­rische Abschlüsse wie z. B. Meisterklasse oder Soloklasse als „künst­lerische Forschung“ wissenschaft­lichen Promotionen gleichgestellt werden. Was ist der Hintergrund für diese Forderung?
Es geht um Äquivalenz und Gleichstellung von Musikhochschulen mit Universitäten. Rechtlich ist das der Fall, aber real ist das bisher nur für Bachelor- und Master-Studiengänge und -abschlüsse umgesetzt. Nach einem Master-Abschluss folgt an den Universitäten eine Qualifizierungsphase über die Promotion bis hin zur Professur. Eine Universität ohne Assistentenstellen kann sich niemand vorstellen. Dafür gibt es (vernünftig bezahlte) Qualifizierungsstellen, Graduiertenkollegs, Stipendien, Projektförderungen etwa durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Über diese Qualifizierungsphase wurde in letzter Zeit viel diskutiert: Wissenschaftsrat, Hochschulrektorenkonferenz und auch die Imboden-Kommission1 haben dazu Empfehlungen ab­gegeben. Konsens ist die Forderung nach einem Nachwuchssystems, das (so der Imboden-Bericht) „den Leistungsfähigsten eine planbare Chance für eine akademische Karriere einräumt“.
Das alles fehlt an den Musikhochschulen. So wie die Universitäten Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs tragen, haben auch die Musikhochschulen Verantwortung für die Qualifizierung des künstlerischen Nachwuchses und benötigen Äquivalentes, um die diesbezüglich an diesem Hochschultyp bestehende Leerstelle zu füllen. Denn es gibt an den Musikhochschulen keine künstlerischen Qualifizierungsstellen, künstlerischen Graduiertenkollegs und Projektförderprogramme. Nach der Soloklasse kommt der (stundenweise bezahlte) Lehrauftrag. Das ist eine unhaltbar ungleiche Situation. Ziel der Musikhochschulen ist, politische Aufmerksamkeit herzustellen und diesen Missstand bekannt zu machen. Ein Schritt dabei ist die äquivalente Einschreibung der Soloklasse in den HQR.2

Bisher steht Forschung eher im Kontext von Wissenschaft und nicht von Kunst. Wie ist der Begriff „künstlerische Forschung“ zu verstehen?
Im englischsprachigen Raum gibt es „practice-based-research“ schon seit den 1970er Jahren. Das deutschsprachige Ausland folgte im vergangenen Jahrzehnt. In Graz wurde 2009 eine künstlerische Doktoratsschule gegründet, 2011 folgte die Graduate School of the Arts in Bern. Es gibt mithin überzeugende Modelle, wohin die Entwicklung gehen sollte. Der Begriff selbst – künst­lerische Forschung, Kunst als Forschung, kunstbasierte Forschung – ist zweifellos schillernd. Umso wichtiger ist die Einschreibung in den HQR: Grundlage ist die Ana­logie von Promotion und Soloklasse, die in der selbstständigen Kompetenzentwicklung sowie im Erwerb von künstlerischen Methoden und Erkenntnissen liegt. Da­bei ist eines sicher: Ohne das künstlerische, forschend gefundene Neue würden die künstlerischen Hochschulen in den Veränderungen der Kultur orientierungslos. Dafür braucht es Spielräume, Zeit und Geld.

Wodurch unterscheidet sich künstlerische Forschung von wissenschaftlicher Forschung bezüglich der Ziele? Gibt es Unterschiede in den Forschungsmethoden?
Selbstverständlich gibt es Unterschiede. Die Logik und Praxis von Wissenserzeugung und Transfer von Einsichten in die Gesellschaft sind grundverschieden. Um es simpel zu sagen: Am Ende der Promotion steht ein Buch, Abschluss in der Soloklasse sind Konzerte, das heißt Forschung in der Musik ist an die performative Realisierung gekoppelt.

Forschungsprozesse sind dadurch gekennzeichnet, dass mittels eines bestimmten methodischen Vorgehens unter Beachtung von Kriterien wie z. B. Objektivität und Validität Wissen generiert und dabei sowohl der Forschungsprozess an sich als auch dessen Er­gebnis (etwa in einem Buch) dokumentiert werden. Damit soll der Forschungsprozess transparent und nachvollziehbar gemacht werden. Bei künstlerischen Leistungen handelt es sich aber um Leistungen, die nur schwer objektivierbar sind, das heißt die Beurteilung der jeweiligen Leistung unterliegt sehr stark subjektiven Faktoren und Konzerte sind im Gegensatz zu Forschungsergebnissen in der Regel auch kein Gegenstand eines öffentlich geführten Fachdiskurses. Nach welchem Maßstab also sollen künstlerische Leistungen, die die Verleihung eines Doktortitels rechtfertigen, beurteilt werden? Und wie muss man sich den Forschungsprozess vorstellen, der zu einem künstlerischen Forschungsergebnis führt?
Die von Ihnen benannten Kriterien stehen auf den ers­ten Blick in Opposition zu einer performativen Realisierung, aber die Opposition zwischen Objektivität von Wissenschaft und schwer objektivierbarer Kunst stimmt nur idealtypisch: Diskussionen z. B. über die Methoden von quantitativer versus qualitativer Forschung münden ebenfalls oft in solche verkürzenden Kontroversen. Und für manche geisteswissenschaftliche Forschung sind die von Ihnen benannten Kriterien ebenfalls viel zu eng. Wegen dieser domänenspezifischen Unterschiede von Fach- und Forschungskulturen geht der HQR ja auch einen anderen, die Vielfalt von Fach- und Forschungskulturen integrierenden Weg. Der HQR beschreibt Qua­lifikationsprofile, die Studierende in dieser Phase ihrer Hochschulausbildung erreichen sollen. Diese werden für die Doktoratsebene und die äquivalenten künstlerischen Abschlüsse auf vier Feldern abgesteckt: „Wissen und Verstehen“, „Einsatz, Anwendung und Erzeugung von Wissen“, „Kommunikation und Koope­ration“ und „Wissenschaftliches Selbstverständnis/Professionalität“. Diese Felder werden jeweils weiter aufgefächert und sind anschlussfähig für die Künste.
Wenn es beispielsweise im Bereich „Kommunikation und Kooperation“ heißt, Promovierte „präsentieren, diskutieren und verteidigen forschungsbasierte Er­kennt­nisse ihres Fachgebiets in interdisziplinären Forschungs- und Verwendungszusammenhängen; diskutieren Er­kenntnisse mit Fachkolleginnen und Fachkollegen, tragen sie vor einem akademischen Publikum vor und vermitteln sie Laien“, dann liegt es gleichauf, wenn Absolventinnen und Absolventen aus Solo- und Meis­terklassen „forschungsbasierte Erkenntnisse aus ihrer Kunstdisziplin vor Fachpublika und auf Wettbewerben“ vortragen, „verantwortlich Ensembles“ leiten und „künstlerische Projekte“ realisieren.
Und wenn es im Bereich „Wissenschaftliches Selbst­verständnis/Professionalität“ heißt, Promovierte „ent­wickeln ein berufliches Selbstbild, das sich an Zielen und Standards professionellen Handelns in vorwiegend wissenschaftlichen Berufsfelder orientiert“ und „reflektieren das eigene berufliche Handeln mit theoretischem und methodischem Wissen und schätzen die eigene Fach- und Sachkunde ein“, dann müssen Sie sogar nur die Formulierung „vorwiegend wissenschaftliche Be­rufsfelder“ durch „vorwiegend künstlerische Berufsfelder“ ersetzen: Ansonsten ist jedes Wort auch für die Künste gültig.

Ist möglicherweise die Verleihung eines Doktortitels, wie er für wissenschaftliche Leistungen verliehen wird, nicht adäquat für die Auszeichnung besonderer künstlerischer Leistungen? Wäre es nicht zweckmäßiger, stattdessen ein eigenes Titelsystem einzuführen wie beispielsweise in Österreich, wo für herausragen­de künstlerische Leistungen von Sängern der Titel „Kammersänger“ verliehen werden kann?
Ja, darin stimme ich Ihnen rundum zu. Die Rektoren­konferenz hat sich schon einige Jahre intensiv mit dem Thema beschäftigt. Dabei mündeten die Überlegungen noch vor sechs Jahren eher bei Modellen, die dem anglo-amerikanischen Modell verpflichtet waren und die Verleihung eines Doktortitels favorisierten. Das ist grundsätzlich revidiert: Terminologie des HQR ist der­zeit „Graduierte aus Soloklassen und Meisterklassen“. Vor sechs Jahren gingen wir davon aus, dass wir an den Musikhochschulen für die Studierenden der „Doktoratsebene“ zwei exzellente Ausbildungssäulen anbieten: die Soloklasse und den „Dr. phil.“ an einer künst­lerischen Hochschule. Zwischen diesen beiden Säulen läge das, wofür dann ein „Dr. mus.“ verliehen werden könne. Das würde bedeuten, dass Studierende nach dem Master-Studium, die bereits hochqualifizierte Expertinnen und Experten sind, relativ spät auf ihrem Ausbildungsweg „umexpertisiert“ werden müssten, im Extrem bis dahin, dass Künstlerinnen und Künstler zum Schreiben einer Dissertation hätten geführt werden müssen.
Ich halte das für eine unsinnige Idee bezüglich der Karriere von Begabungen – und darum geht es ja: um eine Förderung von Begabungen, die im nächsten Schritt in künstlerische Berufe gehen und dann als Professorinnen und Professoren in die Musikhochschulen zurückkommen – mit einem hohen Reflexionsvermögen über das Wissen und Verstehen in ihrem Fach, mit Rüstzeug für „Einsatz, Anwendung und Erzeugung von Wissen“ in ihrem Fach usw. Diese Qualifizierung fällt ja nicht bei der Berufung von Stars mit vom Himmel; diese Qualifizierung muss man auf all den Feldern, die der HQR anführt, erwerben können.
Das heißt, die derzeitigen Überlegungen haben ihren Ursprung und, wie ich finde, auch ihre Triebkraft und ihr innovatives Potenzial in der Verantwortung, die Hochschulen für die gesamten Karrierewege der in den je­weiligen Fächern Besten haben, womit ich nochmals zurückkomme auf das, was ich eingangs unter Bezug auf den Endbericht der Imboden-Kommission aufgerufen habe. Es geht um „planbare Chance für eine akademische Karriere“ der Besten – auch an Musikhochschulen. Die Musikhochschulen müssen sich immer wieder sagen lassen, sie seien den Universitäten gleichgestellt und könnten somit keine Sonderrechte beanspruchen. Sehr gern. Aber dann beanspruchen wir auch, dass Denkansätze zur Hochschulentwicklung wie im Imboden-Bericht Geltung für uns haben und umgesetzt werden – und wir dafür die politische und manchmal eben auch finanzielle Unterstützung benötigen.

Prekäre Beschäftigung an Musikhochschulen zu redu­zieren bzw. ganz abzuschaffen, scheint mehr als not­wendig. Doch ist die Annahme, dass die Politik mehr Geld für feste, unbefristete Stellen zur Verfügung stellt, wenn Doktortitel nun auch für künstlerische Leistungen verliehen werden, nicht zu optimis­tisch? Ich denke bei dieser Frage an all die promovierten und dennoch befristet angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiter an Universitäten, denen auch keine lang­fristige Perspektive geboten wird.
Ein solcher Einwand heißt, den Kopf in den Sand zu stecken. Ließen sich die Musikhochschulen ins Bockshorn jagen mit Hinweis darauf, was an den Universitäten verbesserbar wäre, wäre das fatal. Das Gefälle zwischen Universitäten und Musikhochschulen bezüglich planbarer Karrieren ist dermaßen groß, dass jeder Schritt zum Ausgleich des Gefälles einer ist, den wir tun müssen. Wir müssen verantwortlich handeln und Per­sonalentwicklungsarbeit in den Musikhochschulen leisten. Nur so können wir einer wirklichen Gleichstellung mit den Universitäten näherkommen. Natürlich geht das nicht ohne zusätzliches Geld – und warum auch?
Ich finde den hochschulpolitischen Diskurs über die Verantwortung für den akademischen Nachwuchs sehr zielführend für eine verantwortliche Weiterentwicklung der Hochschullandschaft und auch sehr inspirierend für neue Konzepte in Musikhochschulen. Eigentlich müsste es jedem einleuchten: Wenn es schon an den Univer­sitäten so ist, dass die Nachwuchssituation dort mit solchem Nachdruck auf die Agenda gesetzt wird, dann dürfte es angesichts der Situation des künstlerischen Nachwuchses an den Musikhochschulen eigentlich nur eines geben – einen lauten Aufschrei und ein schnelles Handeln der politisch Verantwortlichen.
Sicher werden die Länder den Musikhochschulen nicht plötzlich Dutzende neuer fester Stellen frei Haus lie­fern, aber es gäbe doch einige Möglichkeiten, mit der Entwicklungsarbeit zu beginnen. Dazu gehört z. B. die Schaffung von äquivalenten Förderlinien für den künst­lerischen Nachwuchs, wie es sie für den wissenschaft­lichen Nachwuchs gibt. Die Drittmitteleinwerbungen von Professoren an Universitäten sind um eine Zehnerpotenz höher als die von Professoren an Musikhochschulen, für die entsprechende Förderprogramme feh­len. Es wäre ein Quantensprung, hätten wir vergleichbar viel Geld in den künstlerischen Hochschulen. Der Kunst Spielraum für Forschung, Reflexion und Transfer zu geben, ist nicht nutzlos: Europa ist mit seiner Kultur das geworden, was es ist. Besinnen wir uns auf diesen Wert.

1 Von September 2014 bis Januar 2016 leitete Dieter Imboden im Auftrag der deutschen Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) die Internationale Expertenkommission zur Evaluation der Exzellenzinitiative (IEKE). Die Kommission wird auch als Imboden-Kommission bezeichnet und veröffentlichte ihren Abschlussbericht Ende Januar 2016.
2 HQR = Qualifikationsrahmen für Deutsche Hochschulabschlüsse. Ein Qualifikationsrahmen ist eine systematische Beschreibung der Qualifikationen, die das Bildungssystem eines Landes hervorbringt.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2017.