Welte, Andrea

Auf der Suche nach dem „wahren Inhalt“

Das Berliner Symposium „Darstellen und Mitteilen“ widmete sich der Interpretation im Instrumentalunterricht

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 5/2010 , Seite 40

Aus Anlass des 60. Geburtstags von Ulrich Mahlert fand am 9. und 10. Juli 2010 an der Universität der Künste Berlin ein Symposium zum Thema „Darstellen und Mitteilen – Interpretation im Instrumentalunterricht“ statt. Zahlreiche Fachleute für Interpretation waren anwesend: nicht nur Lehrende und Studierende der UdK Berlin, sondern auch Musikschullehrkräfte und ProfessorInnen für Musikpädagogik aus ganz Deutschland und Österreich. Stimuliert durch Kurzreferate, musikalische Präsentationen und Unterrichtssequenzen wurden die unterschied­lichen Facetten musikalischer Interpretation gemeinsam diskutiert und Möglichkeiten der Vermittlung von Interpretationskompetenz im Instrumentalunterricht erörtert.
Im Zentrum des ersten Tages stand der erste Satz der Sonate in a-Moll für Traversflöte solo Wq 132 von Carl Philipp Emanuel Bach. Dieses Stück wurde aus unterschiedlicher Sicht und mit verschiedenen Mitteln interpretiert: von verbal-subjektiver Deutung über aufführungspraktische und analytische Überlegungen bis hin zur Interpretation durch Musik und Bewegung.
Zu Beginn gab Christoph Huntgeburth kenntnisreiche Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Sonate und zeigte anschaulich im Dialog mit zwei Studierenden, wie man versuchen kann, sich dem „wahren Inhalt und Affekt“ durch historisches Wissen, Textierung von Melodien sowie harmonisches Verstehen zu nähern. Gergö Bodoky (Klasse Professor Christoph Huntgeburth) brachte das Stück auf der Traversflöte ausdrucksstark zum Erklingen, worauf sich eine lebhafte Diskussion über den Affekt dieses Satzes und die Prob­lematik, diesen im Unterricht zu erarbeiten, entspann.
Als nächstes erhellte Reinhard Schäfertöns in einem Kurzreferat die Faktur des Satzes. Seine klare, tiefschürfende Analyse mündete in eine kontroverse Diskussion über Form und Inhalt, verschiedene Höransätze sowie Deutungsmöglichkeiten dieser Musik – von „musikalischer Irrfahrt“ über „Reflexion des Königs über Tod und Vergänglichkeit“ bis hin zu „Musikalischer Putschversuch gegen den König“.
Überaus spannend dann die zweite musika­lische Präsentation: Marei Lutzer aus der Rhythmik-Klasse von Professorin Dorothea Weise setzte das wieder meisterhaft von ­Gergö Bodoky gespielte Stück zeitgleich in ­Bewegung um. Dank einer Kombination von ­abstrakten und gestischen Elementen und unter Einbezug von indianischen Handzeichen gelang ihr eine überzeugende, unmittelbar berührende, vielschichtige Darbietung. In der Diskussion herrschte Konsens darüber, dass bei der Interpretation von Musik durch Bewegung Motio und Emotio besonders innig verbunden sind; das Publikum wird durch mimetische Prozesse energetisch quasi „mitgenommen“. Die gegenseitige Beeinflussung von Musik und Bewegung war noch einmal eindrucksvoll zu erleben, als Marei Lutzer auf Wunsch der Teilnehmenden die Choreografie mit der Flötistin Johanna Bartz (Klasse Professor Christoph Huntgeburth) wiederholte.
Am zweiten Symposiumstag standen zwei Unterrichtssequenzen auf dem Programm. Als erstes unterrichtete Andreas Eschen (Leo Kestenberg Musikschule Berlin) eine 14-jährige Klavierschülerin. Rosalyn Stürzer erspielte sich die Grammatik des Allegros der Sonatine in G-Dur op. 36 von Muzio Clementi durch einen explorativen, quasi improvisatorischen Umgang mit Zieltonlinien und Stütztönen. Dieser Unterricht in Musik zeigte anschaulich, wie mittels struktureller Analyse der Handwerkskasten des Komponisten transparent gemacht und für die Interpreta­tion genutzt werden kann. Auch wurde deutlich, wie durch eigenes kreatives Tun, das ­systematisch entwickelt wird, ein tieferes Verständnis von Musik und eine lebendige, flexible Interpretation erreicht werden kann. Bei der anschließenden Diskussion wurde überlegt, ob ein ähnliches Vorgehen prinzipiell für jede Musik möglich sei.
Thomas Menrath arbeitete danach mit der Klavierstudentin Hanna Matusch an der Sonate op. 1 von Alban Berg. Auf der Suche nach dem spezifischen Gestus dieser Musik wurden viele Querverbindungen zu Werken anderer Komponisten aufgezeigt. Ausgehend von den unzähligen agogischen und dynamischen Vorschriften stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von überdeterminiertem Notentext und interpretatorischer Freiheit. Weitere Diskussionspunkte waren die Aufführungspraxis der Wiener Schule und ihr Verständnis von Subjektivität und Objektivität, ferner das didaktische Potenzial musikalischer Vergleiche als Möglichkeiten einer begriffslosen Verstehenshilfe. Schließlich wurde überlegt, wie die gestische bzw. körperliche Übersetzung einer Musik (expressiv versus „neutral“) auf die musikalische Interpretation und das Musikerlebnis einwirkt.
Beim Festakt der Fakultät Musik am 11. Juli wurde Ulrich Mahlert als Festschrift ein „Handbuch der musikalischen Interpreta­tion“ überreicht: Unter dem Titel Darstellen und Mitteilen werden Voraussetzungen, Mittel und Werkzeuge näher erforscht, die eine musikalische Interpretation ermöglichen. Anhand stilistisch unterschiedlicher Musikstü­cke wird nicht nur gezeigt, „was“, „wie“ und „warum“ dargestellt und mitgeteilt wird, sondern es werden auch Wege vorgestellt, die Fähigkeit des Interpretierens im Unterricht zu vermitteln.

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