Herbst, Sebastian
Aufholjagd oder Zeit für Nachholbedarf?
Der Kommentar
Mit dem Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ stellt die Bundesregierung für die Jahre 2021 und 2022 jeweils eine Milliarde Euro bereit, aus denen auch musikbezogene Projekte gefördert werden können. Die Antragstellung im Förderbereich „Ferienfreizeiten und außerschulische Angebote“ erfolgt digital auf der Webseite der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (https://bkj.nu/aufholpaket). Förderfähig sind Projekte aus dem Bereich der kulturellen Bildung, die mindestens sechs freiwillige TeilnehmerInnen im Alter bis 27 Jahren erreichen, durch Fachkräfte bzw. kompetente Ehrenamtliche durchgeführt werden sowie leicht zugänglich und an den Lebenswelten, Interessen und Themen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet sind. Mit dem Ziel, „Kindern und Jugendlichen Freude, Gemeinschaft und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen“, sollen „Aktivität, Gemeinschaft und Freude […] im Zentrum stehen, d. h. das unmittelbare Musizieren, Tanzen, Gestalten, Filmen, Theaterspielen, Werken, Singen, Literatur entdecken etc.“ (www.bkj.de/service/corona-hilfe/aufholpaket, 18.10.2021). Die vorherige Beratung zur Antragstellung und die fachliche Prüfung des Antrags wird spartenbezogen von entsprechenden Verbänden wie dem Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ), der Jeunesses Musicales Deutschland (JMD) oder dem Verband deutscher Musikschulen (VdM) verantwortet. Auch gemeinsame Vorhaben mit Partnern aus verschiedenen Sparten der kulturellen Bildung sind möglich.
Grundsätzliches Ziel des Förderprogramms ist die Unterstützung von SchülerInnen, um „Lernrückstände mit zusätzlichen Förderangeboten aufzuholen“ und zwar „nicht nur für den Lernstoff, sondern auch für ihr soziales Leben: Sie sollen Zeit haben für Freunde, Sport und Freizeit und die Unterstützung bekommen, die sie und ihre Familien jetzt brauchen“ (BMFSJ, 27.9.2021). Dass der musikbezogene Bereich ausschließlich unter Freizeit und soziales Leben/Lernen berücksichtigt wird, ist nicht ganz unproblematisch, wenn man bedenkt, dass sowohl der Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen als auch der Einzel-, Gruppen- und Ensembleunterricht an Musikschulen ebenfalls besonders stark eingeschränkt waren.
Dass musikbezogene Projekte aber überhaupt förderfähig sind, ist unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz zum Förderprogramm erfreulich. In dieser Stellungnahme wird darauf hingewiesen, dass die eingesetzten Mittel sicher nicht ausreichen werden, sodass die Mittel für besonders betroffene Gruppen zur Lernförderung in Kernbereichen schulischer Bildung eingesetzt werden sollten. Zudem wird die Konzentration auf Basiskompetenzen in den Bereichen Deutsch und Mathematik statt ein Aufholen des Lehrplans vorgeschlagen. Musikbezogene Kompetenzen spielen hier keine Rolle. Hingegen wird empfohlen, den Unterricht in den Fächern Mathematik und Deutsch zu erhöhen. Dabei „sollte es im Entscheidungsspielraum der Schulen liegen, in welchen Fächern befristet Stundenkürzungen vorgenommen werden, um die Gesamtwochenstundenzahl nicht zu erhöhen“. Doch die Förderung dieser Basiskompetenzen auf Kosten anderer Fächer kann nicht die Lösung sein. Ein möglicher Ausfall von z. B. Musikunterricht führt zu mangelnden Gelegenheiten für den Erwerb musikbezogener (Basis-)Kompetenzen.
Ein grundsätzliches Problem liegt meines Erachtens aber darin, dass auch in der Stellungnahme weiterhin ein Vorschlag zum „Aufholen“ unterbreitet wird. Nach Angaben des Dudens bedeutet „aufholen“ „(einen Rückstand) wieder ausgleichen, den Unterschied zwischen dem eigenen Rückstand und dem Vorsprung des anderen [um ein bestimmtes Maß] verringern“; und als „Rückstand“ gilt „u. a. das Zurückbleiben hinter einer Verpflichtung, einer bestimmten Norm“. Name und Ausrichtung des Förderprogramms sowie die Vorschläge der Stellungnahme gründen also auf einem Verständnis, in dem formulierte Standards als Norm für bestimmte Bereiche und Kompetenzen zur Bewertung einer Gruppe herangezogen werden, die nach diesen Standards in den ausgewählten Bereichen gemeinsam und vor allem unverschuldet schlechter abschneidet.
Sollten wir Kinder und Jugendliche wirklich auf dieser Grundlage mit etwas Geld zu einer Aufholjagd entsenden, um die von uns formulierten altersentsprechenden Standards doch noch fristgerecht zu erreichen? Oder sollten wir ihnen mit dazu notwendigen finanziellen Mitteln nicht vielmehr Zeit und Angebote für ihren Nachholbedarf ermöglichen – laut Duden also für ihr „Bedürfnis, […] etwas, was man lange Zeit entbehrt, nicht (genügend) gehabt hat, was lange Zeit nicht (in genügendem Maße) vorhanden war, nachzuholen“?
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2021.