Linde, Hans-Martin
Aus meinem Leben erzählt
Es sei ihm in seinem jetzigen Lebensabschnitt „eine Art von Selbstfindung wichtig geworden“, schreibt Hans-Martin Linde (*1930) im Vorwort dieses autobiografischen Buchs – und fügt hinzu: „So versuche ich nun, diesen Schritt zu tun – mit der nötigen Hingabe an ein wahrscheinlich recht umfangreiches Unternehmen.“
Dieser Umfang ergibt sich einerseits aus der langen Lebenszeit dieses Musikers, der im Mai 2025 seinen 95. Geburtstag gefeiert hat, andererseits aber auch aus der Vielfalt seiner Interessen und Aktivitäten als Blockflötist, Pionier der Alten Musik, Maler, Dirigent und Komponist, Hochschullehrer, Chorleiter. Dafür scheinen die knapp 180 Seiten dieses Büchleins, die von Gemälden Lindes aufgelockert sind, wahrlich nicht zu viel.
Angelegt ist dieses Buch chronologisch, als Sammlung anekdotisch berichteter Erinnerungen und Gedanken aus verschiedenen Lebensabschnitten, die Linde, wie er schreibt, „von fast täglichen Notaten und Zitaten“ abliest; angefangen von Kindheit und Jugend (1930-46) in einem Pastorenhaushalt, die von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg überschattet waren, über Studium und erste Anstellungen (1947-1956), dann 30 Jahre (1956-1995) intensivsten Wirkens, Reisens, Musizierens als Pionier der Alten Musik und Anwalt der Blockflöte als hochvirtuoses Solo- und Consort-Instrument.
Hier liest man auch über seine Arbeit mit der Cappella Coloniensis, über Begegnungen und daraus erwachsende Freundschaften oder von den Anfängen der historisch informierten Aufführungspraxis und dem Aufbau der entsprechenden Abteilung an der Schola Cantorum in Basel, wo Linde jahrzehntelang unterrichtete. Der letzte Abschnitt (1995-2023) ist eher betrachtend als erzählend gehalten, befasst sich mit der Beschreibung seines Schreibtischs ebenso wie mit Erwägungen über die Tücken des Schwyzerdeutschen neben dem Hochdeutschen. Aber auch seine Lesepfade beschreibt Linde, seinen Zugang zur eigenen Textproduktion.
In all diesen Erinnerungen begegnen naturgemäß das eine oder andere Mal Passagen wie etwa Aufzählungen von Personen, mit denen der Autor zu tun hatte, die sicher nur für spezifische Lesergruppen von Interesse sind.
Doch liest sich dieses Büchlein gut und leicht. Lindes Sprache ist klar und korrekt, er erzählt uneitel, unemotional, manchmal fast nüchtern, aber immer auf den Punkt kommend und persönlich, und überspannt damit fast ein Jahrhundert nicht nur an Lebensgeschichte, sondern auch an Musikgeschichte, insbesondere Geschichte der Alten Musik – auf dafür unfassbar kleinem Raum. Oder, wie er selbst es ausdrückt: „So habe ich es gerne unternommen, der unaufhaltsam verrinnenden Zeit auf meine ganz persönliche Art nachzugehen. Und ich probierte, einiges von dem festzuhalten, was mir wesentlich wurde und auch wohl bleiben wird.“ Das ist ihm auf faszinierende Weise gelungen.
Andrea Braun