Satie, Erik

Avant-dernières pensées

für Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2015
erschienen in: üben & musizieren 4/2016 , Seite 55

Am 17. Mai 2016 hätten wir Erik Saties 150. Geburtstag begehen können. Grete Wehmeyer beschrieb ihn 1974 in ihrer heute noch maßgeblichen Biografie als seiner Zeit um achtzig Jahre voraus. Er selbst sagte von sich: „Ich bin sehr jung auf eine sehr alte Welt gekommen.“ 1886 bereits komponierte er Ogives und zeigte, dass Musik entwicklungslos und zustandhaft sein kann. Schon diese Musik des jungen Satie war für seine Zeitgenossen befremdend. Er gab Metrum und Takteinteilung auf, setzte auf Reihung statt Entwicklung, auch in seiner Harmonik. Das 1892/1895 komponierte Vexations mit seinen 840 Wiederholungen stellt Satie durchaus neben den 1912 geborenen John Cage.
Saties Avant-dernières pensées (Vorletzte Gedanken), drei knappe Klavierstücke, sind zwischen August und Oktober 1915 entstanden. Das Tryptichon gehört zu den Klavierwerken, denen  Satie einen Text beigegeben hat, zusätzlich zu den traditionellen Satzüberschriften „Idylle“, „Aubade“ und „Méditation“. Diese  Texte sind von erzählendem Charakter, kurios, poetisch offen, surreal: „Der Mond hat sich mit seinem Nachbar überworfen; und der Bach ist bis auf die Knochen durchtränkt.“
Text und Musik laufen scheinbar beziehungslos nebeneinander her, gehen aber auch quasi programmatische Beziehungen ein. Es sind in Teilen aber auch Spielanweisungen, eine Art „fiktiver Dia­log zwischen Lehrer und Schü­ler“, so eine der triftigen Musik-Text-Deutungen des Herausgebers Jens Rostek. Dieses befasst sich mit Entstehung und Widmungen des Zyklus, widmet sich mit knapp andeutenden analy­tischen Gedanken Musik und Text und in einem dritten Kapitel Quellen- und Editionsfragen. Das Vorwort wie auch die Texte Saties sind dreisprachig abgedruckt. Ein detaillierter „Critical Commentary“ ist nur auf Englisch verfügbar.
Für den Pianisten oder die Pianistin stellt sich die Frage, ob die Texte integraler Bestandteil der Musik sind. Der Pianist Steffen Schleiermacher fasst das in seinen Hinweisen zur Aufführungspraxis in die grundlegende Frage: „Vorlesen oder nicht vorlesen“. Er plädiert gegen Saties eigenes, möglicherweise ironisch gemeintes Verbot („Jedes Zuwiderhandeln […] zöge meine berechtigte Empörung über den Vermessenen nach sich“) für das Vorlesen, weil die „seltsamen Texte […] eine surreale Assozia­tionsebene […]“ liefern.
Schleiermacher weist darauf hin, dass die Texte in keiner Weise rhythmisiert gesprochen werden dürfen oder das Klavierspiel dem Sprechrhythmus angepasst werden darf. Falls wegen der Saalgröße die Sprechstimme eine elektroakustische Verstärkung benötige, solle man auf die Stücke generell verzichten. Schleier­macher gibt Tipps zu Interpretation, Espressivo-Fragen und Pedalgebrauch. Insgesamt gibt der auch bibliophile Ansprüche erfüllende Band einen großen Anreiz, die Stücke zu spielen – auch und natürlich besonders im Musikschulalltag als verführerisch-lohnende Neue Musik.
Günter Matysiak