Hagedorn, Volker
Bachs Welt
Die Familiengeschichte eines Genies
Ist es legitim, dass ein Buch, das sich auf den ersten Blick dokumentarisch gibt, munter drauflos fabuliert? Ja, es ist dann legitim, wenn der Dokumentencharakter dadurch erhalten bleibt, dass vergleichbare reale Ereignisse beispielhaft unterlegt werden: Natürlich weiß auch der Autor nicht, wie es beim Pest-Tod des Johann Christian Bach 1682 zugegangen ist. Dafür aber gibt es unzählige Beschreibungen, die dieses Drama veranschaulichen und die man hier unterlegen kann, um eben auch den Bach’schen Tod wirklichkeitsnah darzustellen. Hagedorn hat sich einer Pest-Darstellung bedient, die er dem großen italienischen Schriftsteller Alessandro Manzoni verdankt. Da er seine Montagen im – übrigens ausgezeichneten – Anhang offenlegt, ist die intersubjektive Überprüfbarkeit gewährleistet. Hagedorn ist, wie er schreibt, „zuversichtlich, dass die Leser sich dadurch nicht genarrt, sondern in der Lektüre befördert fühlen“.
Und das werden sie in der Tat. Aus dem nach wie vor wenigen, das wir über die Bachs wissen, hat Hagedorn eine wunderbar lebendige Chronik gestaltet, fern aller akademischen Trockenheit, wie sie wissenschaftlichen Biografien leider so oft anzuhaften pflegt. Von den ältesten bekannten Stammvätern im damals ungarischen Pozsony (Pressburg, heute: Bratislava) führt der Autor seine Genealogie bis hin zum größten aller „Bache“ in Leipzig und hält im Fond jederzeit eine große Portion Zeitkolorit parat, wodurch der allumfassende Titel des Buchs gerechtfertigt ist.
Die Kompositionen der älteren Bachs werden eingehend gewürdigt und, wie z. B. im Falle des berühmten Chorals Jesu meine Freude, äußerst sinnvoll interpretiert.
Ganz nebenbei bringt Hagedorn sogar die Bach-Forschung mit neuen Erkenntnissen weiter: So gelingt ihm der Nachweis, dass der Text des „Lamento“ des Eisenacher Organisten Johann Christoph Bach, dessen Dichter bisher als unbekannt galt, kein Geringerer sein kann als der bedeutende Barockdichter Simon Dach.
Sind schon diese Kapitel ein einziges, lehrreiches, exzellent recherchiertes Lesevergnügen, so wird dieses noch gesteigert in dem Abschnitt, der den Schicksalen des Altbachischen Archivs von Leipzig über Berlin bis in die Ukraine und von dort wieder zurück nach Berlin gewidmet ist. Hier haben wir es geradezu mit einem Krimi zu tun, und genauso spannend liest es sich!
Sehr wohltuend ist auch, dass der Verfasser nicht nur in einer fernen Vergangenheit abtaucht und in ihr verschwindet, sondern – er hat viele der Bach-Orte selbst bereist – manch vergleichenden Blick in die Gegenwart tut. Zum Beispiel in die Gegenwart eines Thüringen, das geprägt ist von einem Rechtsextremismus, „der sich vor allem gegen Asylbewerber und Ausländer richtet“. Das alles hat nichts mit den Bachs zu tun? Nun, diese kamen als arme ausländische Flüchtlinge nach Thüringen…
Friedemann Kluge