Wimmer, Gerd

Ballett auf den Tasten

Das Bewegungsalphabet und Bewegungswörter am Klavier – eine Anleitung zum Selbststudium

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2016
erschienen in: üben & musizieren 6/2017 , Seite 50

Das vorliegende Buch stammt von einem klavier- und geigespielenden Laien: dem ehema­ligen Vorsitzenden Richter am Landgericht Augsburg. Schon diese Tatsache weckt Interesse, daneben aber auch die Frage, welche Kenntnisse des Geigenspiels eventuell auch für das Klavierspiel nutzbar sein könnten. Gerd Wimmer hat sich nach eigener Aussage viele Jahre und Jahrzehnte mit Klavierspiel und Klaviertechnik beschäftigt und legt hier seine Gedanken in einer gerafften und übersichtlichen Form dar.
Der Band gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil erläutert er seine theoretischen Überlegungen zum Anschlag auf dem Klavier und zu den dafür zweckmäßigen Bewegungen. Im zweiten Teil sind verschiedenartige Anregungen zum Üben versammelt, wobei es zunächst um allgemeinere Empfehlungen geht und schließlich um die Beschreibung von Übeschritten anhand konkreter Beispiele aus Werken von Bach, Chopin und Beethoven.
Wimmers Ziel ist, eine übermäßige Belastung einzelner Teile des Spielapparats zu vermeiden und deshalb die Aufgaben, die Schulter, Ellbogen, Hand, Finger in jedem Moment haben, genau festzulegen. Für die verschie­denen Bewegungsmöglichkeiten der Gelenke findet er Analogien aus dem Alltag (z. B. „Holzhacker“ für eine Bewegung aus dem Ellbogen, „Winken“ für Auf- und Abwärtsbewegungen der Hände, „Schlüsselsperrbewegung“ für Unterarmrotation, „Krallen oder Kratzen“ für Fingerbewegungen aus dem Mittelgelenk der Finger usw.). Die einzelnen Bewegungsformen bekommen Symbole, die gegebenenfalls auch in die Noten eingetragen werden können: H für Handgelenk, f für den „krallenden“ Finger usw. – wobei dann aus der Folge solcher Symbole die „Bewegungswörter“ gebildet werden.
Bezüglich des Anschlags betont Wimmer zurecht die Gleichwertigkeit von Aufhebungsbewegung und Anschlag und trennt vor allem die Anschlagsbewegung von der „Transportbewegung“ entlang der Klaviatur. Mehrere Anschlagsbewegungen werden zu einem Anschlags­zyklus zusammengefasst, den er, angelehnt an die Bogentechnik der Streicher, in „Abschwung“- und „Aufschwung“-Phasen unterteilt, die mit den verschiedenen Zählzeiten des Metrums in Zusammenhang stehen.
Was im ganzen Band fehlt, ist ein Hinweis auf die eigentlich entscheidenden Faktoren des Anschlags am Klavier: die Sensibilisierung des Spielers für den Anschlagspunkt der Mechanik, der Kontakt der Fingerspitze zur Taste und die Modifikationen des „Gewichts“ oder der „Stütze“. Die konkreten Bewegungen wären dann abhängig von den Tonfolgen, deren Dynamik, Artikulation und dem gewählten Fingersatz.
Natürlich ist es richtig, nicht mit isolierten Fingern zu spielen; aber der Weg, der hier gezeigt wird, bei dem jede einzelne Note eine separate Bewegungsanweisung bekommt, erscheint nicht sinnvoll, um ein natürliches Spiel zu erreichen. Willy Bardas schrieb schon 1927, dass „alle auf bestimmte Bewegungsformen abzielende Methoden den Nachteil (haben), dass sie den Schüler von der Betätigung seiner eigenen Beobachtungsgabe isolieren“. Bardas betont die Wichtigkeit einer allgemeinen Körpergeschicklichkeit, um die jeweils „subjektiv zweckmäßigen Bewegungsformen als subjektiv methodische Gesetze“ zu erfahren. Diese Grundsätze gelten noch immer.
Der Fokus auf Bewegungen birgt immer die Gefahr von zu großen Bewegungen und der Ablenkung vom klanglichen Ergebnis – auch wenn Wimmer fordert, auf jeden Ton zu hören. Die von ihm beschriebenen grundlegenden Bewegungsmöglichkeiten können losgelöst vom Instrument ausprobiert werden, sozusagen als Vergewisserung, ob man sich aller vorhandenen physiologischen Möglichkeiten bewusst ist. Das haben andere AutorInnen auch schon gemacht. Die konkrete Anwendung sollte sich in der Musik am Instrument dann aber aus den klanglichen Vorstellungen und eben der körperlichen  Anpassungsfähigkeit ergeben, die feiner abgestufte und komplexere Bewegungskoordinationen ermöglicht, als es ein Bewegungssystem jemals schaffen könnte.
Im zweiten Teil des Buchs finden sich zahlreiche sehr sinnvolle Übehinweise: die Portionierung von Übeeinheiten, deren Zusammenhang mit dem Metrum, Bedeutung von Griffen, „Finger­wege“, Fingersatzstrategien, Bedeutung von Haltetönen usw. Vielleicht ist manchmal die Betonung zu sehr auf Fehlervermeidung gelegt.
Fazit: In Bezug auf die theoretischen Grundlagen pianistischer Anschlagstechnik und des motorischen Lernens weniger überzeugend als im Teil mit den praktischen Anregungen.
Linde Großmann