Narewski-Fuchs, Norina

Berufswunsch Superstar

Castingshows aus gesangspädagogischer Sicht

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 4/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Als ich vor einigen Jahren als Gesangspädagogin an einer Musikschule arbeitete, stellte sich ein 14-jähriges Mädchen im Sekretariat vor, um sich für den Gesangsunterricht anzumelden. Als das Mädchen hörte, dass es eine Warteliste gebe und der Unterricht nicht gleich beginnen könne, war es ganz verzweifelt. Sie habe doch schon in drei Wochen die CD-Aufnahme und könne deshalb nicht warten!
Vielleicht ist dieses Mädchen kein ungewöhnlicher Fall. Zurzeit gewinnt man den Eindruck, dass es für immer mehr Kinder und Jugendliche erstrebenswert ist, „Superstar“ zu werden. Viele kommen mit solchen oder ähnlichen Erwartungen und Vorstellungen zu einer Gesangslehrerin. Es ist ihnen nicht bewusst, dass man auch zum Singen Talent, Fleiß, Geduld und Ausdauer braucht. Die künstlerische Leistung eines Sängers und dessen Weg dorthin werden offenbar falsch eingeschätzt. Das wirft für mich die Frage auf, welchen Anteil Castingshows an diesen Fehleinschätzungen haben.
Der Wunsch, Ruhm zu erlangen, ist nicht neu. Viele möchten auf der Bühne stehen, bewundert und verehrt werden. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung ist höchst menschlich. Speziell künstlerische Berufe scheinen diesbezüglich die Fantasie vor ­allem junger Leute anzuregen. Castingshows bieten für die kurzfristige Erfüllung dieses Traums eine Plattform. Doch der Preis dafür kann hoch sein. Eine wissenschaftliche Befragung von TeilnehmerInnen, vorgelegt von Maya Götz, Christina Bulla und Caroline Mendel,1 beschreibt das Risikopotenzial von Castingshows. Die Autorinnen erwähnen unter anderem die Gefahr psychischer Langzeitschäden und einer Behinderung der Persönlichkeitsentwicklung. Sie unterscheiden verschiedene Typen von TeilnehmerInnen, die auch in unterschiedlichem Maß von diesem Format profitieren oder Schaden nehmen können.2
Aus gesangspädagogischer Sicht ist prob­lematisch, dass oft nicht die sängerische Qualität, sondern die Vermarktbarkeit im Vordergrund steht. Zum Beispiel regeln die Teilnahmebedingungen von Deutschland sucht den Superstar (DSDS), dass das Styling für die Liveshows grundsätzlich durch den Produzenten erfolgt und dieser sich auch das Recht vorbehält, abschließend über die Liedauswahl zu entscheiden.3
Superstar zu werden ist nicht nur lohnend, unkompliziert für jeden möglich, sondern bedarf auch nur geringer Anstrengung. Diesen Eindruck jedenfalls vermitteln Cas­tingshows, die in unterschiedlichen TV-Formaten ausgestrahlt werden. Man kann sich in fast jeder größeren Stadt „casten“ lassen, mittlerweile auch ohne Voranmeldung. Die Hemmschwelle ist dadurch nied­rig, die Ahnungslosigkeit scheint groß.
Das betrifft auch die sängerischen Voraussetzungen: Man lernt über das Gehör – YouTube sei Dank! Im Karaoke-Prinzip werden die InterpretInnen imitiert, wobei hauptsächlich das untere Drittel des Stimm­umfangs benutzt wird. In Songbooks gibt es die aktuellen Titel oft nur mit Akkordbezeichnungen und Text. Notenkenntnis oder die Beherrschung eines Instruments sind nicht mehr zwingend nötig.

„Nessun dorma“ – für Sopran?

Vor allem mit klassischer Musik tun sich viele SchülerInnen im Gesangsunterricht schwer. Ihnen fehlt der Zugang aufgrund mangelnder Hörerfahrung. Das spiegelt sich deutlich in den Castingshows wider. Klassik hat dort kaum einen Platz. Ob sie ihn überhaupt haben sollte, bleibt für mich fraglich. Einige wagen sich doch an klassisches Repertoire und werden gern als exotische Einspielungen gesendet. Der „Mut“ zum klassischen Beitrag wird bewundert und die Jury lässt Kompetenz zur Bewertung des Beitrags vermissen.
Beispielsweise versucht sich eine Bewerbe­rin an der Arie des Calaf „Nessun dorma“ aus Turandot, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine Tenor-Arie handelt, und ist stimmlich damit eindeutig überfordert. Ein postpubertäres Mädchen quält sich körperlos durch die Arie der Königin der Nacht und wird zum Vorbild für einen gleichaltrigen Jungen, der es dann im darauffolgenden Jahr auch damit versucht. Jury und Publikum sind hingerissen: „Es war hammergeil!“

Kinder-Castingshows

Während erwachsene TeilnehmerInnen für sich selbst die Verantwortung tragen, können Kinder dies in der Regel noch nicht. Bereits Achtjährige sind bei manchen Castingshows teilnahmeberechtigt. Wenn sie als kleine Erwachsene Songs interpretieren, in einer Sprache, die sie nicht verstehen, über Themen, bei denen Kinder vor einigen Jahren noch aus dem Raum geschickt wurden, läuft etwas schief!
Kinderpsychiater und -psychologen warnen vor einer frühen Sexualisierung von Kindern, die zu einer Alters- und Rollenkonfusion bei den Kindern führt und den Voyeurismus des Publikums fördert.4 Man wünscht ihnen, dass sie den großen Rummel um ihre Person gut überstehen und die mitfiebernden Eltern in der Lage sind, sie aufzufangen, wenn der Erfolg ausbleibt. Wie oft mögen es wohl die Eltern sein, die so Bestätigung suchen?
Wenn das Format dann noch zur Prime­time als Familiensendung im TV gezeigt wird, funktioniert es auch als Multiplikator: Auf dem nächsten Kindergartenfest sehen wir Mädchen im kurzen Glitzerkleid und kleine, auf cool gestylte Rocker über die Bühne hopsen und die entsprechende Literatur singen. Sind das dann die neuen Talente von morgen? Gerade Kinder, die Bestätigung und Orientierung durch die ihnen wichtigen Bezugspersonen suchen, sind hierfür empfänglich. Da sehe auch ich mich als Gesangspädagogin in der Verantwortung, Beraterin nicht nur in musikalischen Themen zu sein, einen Freiraum des Ausprobierens zu schaffen, sie zu bestätigen, aber auch vor einigem zu bewahren.
Andererseits sieht man in Kinder-Castingshows auch sehr talentierte Kinder, die unbedingt gefördert werden sollten. Ich wünsche mir, dass sie dann auf qualifizierte GesangspädagogInnen treffen. Dieses Kapitel bleibt im Fernsehen unbeleuchtet. Wie mit den ausgewählten Kindern während der Staffel und danach gearbeitet wird, ist leider nicht zu sehen. Gerade die Arbeit mit der Kinder- und Jugendstimme braucht einfühlsame und gut ausgebildete Lehrpersonen.

Einseitige Ausbildung

Über die Qualität von Kinderstimmen und klassischen Gesangsvorträgen von Erwachsenen kann ich mir ein Urteil bilden, wage aber nicht zu behaupten, alle populärmusikalischen Beiträge ausreichend professionell beurteilen zu können. Ich habe das typische, klassisch ausgerichtete Studium der Gesangspädagogik und die Ausbildung zur Kinderstimmbildnerin absolviert. Die Technik des Populargesangs spielte dabei keine Rolle.
Eine solche Ausbildung deckt sich jedoch heute nicht mehr vollständig mit der Realität des täglichen Arbeitslebens als Gesangspädagogin an einer Musikschule oder in privater Unterrichtstätigkeit. Da aber die Notwendigkeit besteht, sich mit Popmusik zu beschäftigen, sollten Angebote genutzt werden, sich auch nach dem Studium in Workshops zu diesem Thema weiterzubilden.
Unabhängig davon rege ich an, dieses Thema ins Studium der klassischen Gesangspädagogik zu integrieren. Dadurch bieten sich viele neue Möglichkeiten. Damit meine ich jedoch nicht, die klassische Literatur zu umgehen, im Gegenteil: „E“ und „U“ können sich hervorragend ergänzen und gegenseitig befördern. Die stimmphysiologischen Voraussetzungen sind schließlich die gleichen.
Einige SchülerInnen sind über Popmusik leichter emotional ansprechbar, da sie mehr ihren Hörgewohnheiten entspricht und die Hemmschwelle dadurch geringer ist. Das kann man nutzen, um ihnen danach auch die Welt der Klassik näherzubringen. Die altertümliche Sprache macht es SchülerInnen oft schwer, den Inhalt zu erfassen. Wenn man mit ihnen den Text übersetzt, Parallelen zur heutigen Zeit sucht, fällt der Zugang oft leichter.
Ich plädiere eindeutig für den Abbau der Schwellenangst von „E“ und „U“ in der Gesangspädagogik, unabhängig von einer späteren Spezialisierung. GesangspädagogInnen, die an der Basis im Musikschul­bereich arbeiten, brauchen ein breiteres Spektrum an Stilrichtungen, um möglichst viele SchülerInnen da abholen zu können, wo sie stehen.

Unterrichtsatmosphäre

In meinen ersten Jahren als Gesangslehrerin kamen zwei Schülerinnen zu mir, die offensichtlich auch vom Casting-Fieber angesteckt waren, im pubertären Alter, selbstbewusst und fordernd auftretend. Da ich selbst erst geringe Berufserfahrung hatte, habe ich ihnen wohl etwas zu undiplomatisch mitgeteilt, dass sie noch weit entfernt vom Superstar seien. Enttäuscht gingen sie aus der Probestunde. Danach war ich um eine Erfahrung reicher: Wie wichtig ist es doch, den SchülerInnen Freiraum zu geben, sie ernst zu nehmen mit dem, was sie zu mir führt.
Es ist notwendig, eine vertrauensvolle und angstfreie Atmosphäre zu schaffen, um auch Fehler zuzulassen und sich ausprobieren zu dürfen – und eben auch Superstar sein zu wollen. Schließlich zeigen wir uns mit unserer Stimme so unmittelbar und sind so nah an unseren Gefühlen wie mit keinem anderen Instrument! Wo ich mich nicht sicher fühle, kann ich nicht loslassen und auch nicht kreativ werden. Das wiederum ist eine der wichtigsten Voraussetzung für das Singen.
Der Neurobiologe Gerald Hüther schreibt: „Die entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung unseres kreativen Potentials ist die Überwindung der individuellen Angst durch die Stärkung von wechselseitigem Vertrauen.“5 Dem wird eine Castingshow gerade nicht gerecht. In den meisten Castingshows geht es nicht um eine indivi­duelle Entwicklung der TeilnehmerInnen, also ist eine wirkliche Verbesserung ihrer Fähigkeiten gar nicht möglich.
Beim Gesangsunterricht hingegen geht es nicht um die Bewertung von Äußerlichkeiten, sondern um die Verbesserung der Singstimme und um den Weg dorthin. Dieser dauert allerdings nicht nur vier Wochen, sondern bedeutet auch Üben, Fleiß und Geduld. Für die Gesangspädagogin ist es eine Herausforderung, dem Schüler oder der Schülerin diese Notwendigkeit klar zu machen und ihn oder sie dafür zu motivieren.
„Üben ist so langweilig“
Die meisten SchülerInnen sind in den ersten Unterrichtsstunden sehr motiviert. Rasch lässt sich erkennen, ob ihre Erwartungen erfüllbar sind. Die Fernseherfahrungen bewirken häufig unrealistische Vorstellungen vom Gesangsunterricht, was sich ungünstig auf die Motivation auswirken kann. Wenn ein Schüler seine stimmliche Leistungsfähigkeit vielleicht überschätzt hat, der schnell erhoffte Erfolg auf sich warten lässt, kann die Konfrontation mit der Realität demotivierend wirken. Es ist wichtig, gemeinsam ein realistisches Ziel zu formulieren und den Weg dorthin zu beschreiben. Diesen Weg muss der Schüler jedoch selbst aktiv gehen. Man muss ihm verdeutlichen, dass ein gewisses Maß an Übezeit unumgänglich ist. Dazu gehört auch mentales Üben und die inhaltliche Beschäftigung mit der Literatur, ebenso das Hören von Musik und das Beobachten von Sängerinnen und Sängern.
Ich wähle mit meinen SchülerInnen gemeinsam Literatur aus, die ihnen gefällt und die sie trotzdem gut bewältigen können. Das Ziel des Gesangsunterrichts kann ganz unterschiedlich sein: Manch einer möchte sich im Chor mit seiner Stimme wohler fühlen oder mit den eigenen Kindern besser singen können. Ein anderer bereitet sich auf ein Gesangsstudium vor oder möchte unbedingt bei einer Castingshow mitmachen.

Fazit

Das Mädchen, das ich zu Beginn erwähnte, kam leider nie wieder. Ich weiß nicht, was aus ihr wurde. Aber es kamen viele andere, die begeistert Castingshows gesehen hatten und dann auch singen lernen wollten. Es waren sicher auch welche dabei, die nie zuvor darüber nachgedacht hatten, Gesangsunterricht zu nehmen.
Diese Tatsache jedenfalls muss man Castingshows zugute halten: Singen ist wieder interessant. Doch wie viele der TeilnehmerInnen an Castingshows stellen sich tatsächlich an einer Musikschule oder bei einer privaten Gesangslehrerin vor? Diejenigen, die es doch tun, kommen mit ihrer Stimme und nun auch mit den vom Fernsehen geprägten Vorstellungen zu uns. Dem stehen wir als GesangspädagogInnen gegenüber. Castingshows sind ein Phänomen unserer Zeit. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, um sensibel damit umgehen zu können. Für den Musikunterricht an Schulen existiert bereits Arbeitsmaterial, welches sich mit dem Thema beschäftigt.
Zwischen der Teilnahme von Erwachsenen und Kindern ist deutlich zu unterscheiden. Einem erwachsenen Schüler, der an einer Castingshow teilnehmen möchte, würde ich die Vor- und Nachteile verdeutlichen, eine Empfehlung aussprechen, ihm aber nicht die Entscheidung abnehmen. Bei Kindern ist dies wesentlich schwieriger. Vor dem 14. Lebensjahr rate ich generell von einer Teilnahme an einer Castingshow ab. Allerdings ist auch die Persönlichkeit des Kindes und das Format der Sendung zu beachten, z. B. ob eine kompetente Fachjury vorhanden ist. Die Beschäftigung mit Pop- und Rockliteratur hingegen halte ich gerade auch für klassiche Gesangslehrkräfte an Musikschulen für sinnvoll.
Ich wünsche mir, dass wir weiter sorgsam mit den uns anvertrauten Schülerinnen und Schülern umgehen, ihnen Raum zur Entfaltung, Zeit und Achtung entgegenbringen. Wir dürfen sie eine kleine Strecke auf ihrem Weg begleiten. Vielleicht können wir unseren SchülerInnen nicht nur das Singen beibringen, sondern sie auch so stärken, dass sie ihren Wert nicht von einer Jury abhängig machen müssen.

1 Maya Götz/Christina Bulla/Caroline Mendel: Sprungbrett oder Krise? Das Erlebnis Castingshow-Teilnahme (LfM-Dokumentation Band 48), Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2013.
2 ebd., S. 99-139.
3 Auszug aus den Teilnahmebedingungen am Wettbewerb Deutschland sucht den Superstar:
„7.4. Die Auswahl der Musiktitel erfolgt grundsätzlich gemeinschaftlich durch den Produzenten und den Teilnehmer unter Berücksichtigung der stimmlichen Möglichkeiten des Teilnehmers und des jeweiligen Mottos einer Show. Der Produzent behält sich das Recht vor, den Teilnehmer nach Rücksprache mit dem Vocal Coach dazu zu ver­pflichten, ein bestimmtes Lied zu singen oder ein Lied aus einem bestimmten Genre vorzutragen.
In jeder Phase des Wettbewerbes behält sich der Pro­duzent das Recht vor, die Auswahl eines Liedes durch den Teilnehmer abzulehnen.
7.5. Das Styling für die Mottoshows erfolgt durch den Produzenten.
7.13. Für den Fall einer Meinungsverschiedenheit über den Ablauf eines Teils des Wettbewerbes oder dieser Regeln ist die Entscheidung des Pro­duzenten abschließend und bindend.“ Im Internet unter http://bilder.rtl.de/download/musik/DSDS_Die_Regeln.pdf (Stand: 10.6.2016).
4 Michael Kroll: „Casting-Shows. Chancen und Risiken einer öffentlichen Präsentation oder Zur­schaustellung von singenden Kindern und Jugend­lichen“, in: Michael Fuchs (Hg.): Außer – gewöhnlich? Wege im Umgang mit dem Besonderen, Berlin 2014, S. 177-191.
5 Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt am Main 2011, S. 132.