Schmitt-Weidmann, Karolin

Bewahren und erneuern

Repertoireauswahl als kollektiver Reflexionsprozess

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 18

Vor dem Hintergrund einer zu beobachtenden Tendenz, die Förderung von gesellschaftlich verantwortungs­bewussten Gesamtpersönlichkeiten zum Bildungsauftrag (nicht nur) von Musikhochschulen zu erheben, stellt sich die Frage, wie die Repertoire­auswahl diesem übergeord­neten Bildungsziel Rechnung tragen kann. Müssen sich traditionell ausgerichtete Konzertprogramme in Zukunft neu ausrichten? Wenn ja, welche Orientierungspunkte ­ließen sich dementsprechend zugrunde legen?

Am Beispiel des Repertoires zeigt sich, dass sich die aktive Gestaltung von Kultur in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation ereignet und – vielleicht mehr denn je – einen verantwortungsvollen Reflexionsprozess von allen erfordert, die für Repertoireauswahl verantwortlich sind.
Vergleicht man aktuelle Leitbilder von Musikhochschulen, so wird deutlich, dass vielerorts übergeordnete Bildungsziele zum Ausdruck gebracht werden, die die Heranbildung von weltoffenen und gesellschaftlich verantwortungsvollen Persönlichkeiten ins Zentrum des Bildungsauftrags stellen. So positioniert sich beispielsweise die Hochschule für Musik Würzburg unmittelbar mit der Überschrift „Exzellenz in gesellschaftlicher Verantwortung“.1 In Detmold soll das Studienangebot „der Förderung eines kritischen Verantwortungsbewusstseins der Studierenden sowie der Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Stär­kung ihrer Gesamtpersönlichkeit“2 dienen, während AbsolventInnen der Musikhochschule Weimar „umfassend gebildete, autonom handelnde musikalische, pädagogische und wissenschaftliche Persönlichkeiten [sind], die engagiert gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen“.3
Die Förderung zentraler Schlüsselkompetenzen wie Eigeninitiative, Urteilsfähigkeit und Selbstverantwortung sowie die als „4K“ bekannten „Future Skills“ Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken scheinen vor diesem Hintergrund zunehmend in ihrer Verbindung mit fachlichen Kompetenzen Bedeutung zu erlangen und schlagen sich unter anderem in Angeboten der Karrierezentren sowie in Managementkursen an Musikhochschulen nieder, die eine individuelle Persönlichkeitsförderung ergänzen sollen.
Auch Reflexionsprozesse hinsichtlich der Repertoireauswahl können als persönlichkeitsfördernd angesehen und als Verantwortung für die Mitgestaltung der Kulturszene wahrgenommen werden, da AbsolventInnen als MultiplikatorInnen für ein stärkeres Repertoirebewusstsein in den Musikschulen und der Berufspraxis fungieren. Die mit diesen Reflexionsprozessen einhergehenden Fragen sollen im Folgenden bewusst polarisierend von zwei Seiten aus betrachtet werden: Leitend ist der Gedanke, dass sich die Repertoireauswahl im Spannungsfeld zwischen innovativer Erneuerung und traditionellem Bewahren bewegt. Vor diesem Hintergrund wird abschließend ein Ansatz zur Förderung einer bewussten Auseinandersetzung mit Repertoire vorgestellt. Eine entsprechende Initiative wird derzeit an der Detmolder Musikhochschule erprobt und ließe sich auf die Musikschul­arbeit und die Konzertpraxis allgemein übertragen.

Spiegel des kulturellen Wandels

Die nähere Betrachtung des Begriffs „Kultur“ offenbart eine erste Annäherung an das gerade benannte Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation: Die Gestaltung und Gefährdung alltäglicher sozialer Ordnung in westlichen Industrienationen wird laut Hans-Georg Soeffner von Interkulturalität, Individualisierung und Inselbildung bestimmt. Ein Konsens über gemeinsame kulturelle Normen müsse dem Konsens weichen, dass es gemeinsame Normen kaum noch geben könne.4 Moderne Industriestaaten sind in den Augen Soeffners zwangsläufig offene, multikulturelle und multiethnische Gesellschaften.5 Kultur ist demnach als ein Konstrukt aufzufassen, das einem ständigen kreativen Wandel unterliegt.
Auch wenn eine reflektierte und mehrschichtige Auseinandersetzung mit „Meisterwerken“ westlicher Kunstmusik selbstredend in hohem Maße persönlichkeitsfördernd sein kann, so scheinen insbesondere interkulturelle Aspekte in der Konzertpraxis an Musikhochschulen und Musikschulen vorwiegend durch westlich geprägte Be- und Verarbeitungen zum Ausdruck zu kommen.

1 www.hfm-wuerzburg.de/ueber-uns/leitbild (Stand: 22.10.2022).
2 www.hfm-detmold.de/die-hochschule/leitbild (Stand: 22.10.2022).
3 www.hfm-weimar.de/hochschule/die-hfm-weimar/ leitbild (Stand: 22.02.2023).
4 vgl. Soeffner, Hans-Georg: „Die Kultur des Alltags und der Alltag der Kultur“, in: Rüsen, Jörn (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften Bd. 3, Stuttgart 2011, S. 399-411, hier: S. 405.
5 vgl. ebd., S. 406.

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