Behschnitt, Rüdiger

Bewusstes Hören

Ein Studientag an der Musikhochschule Mannheim ging dem Hören, Lauschen und Lernen nach

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 48

„Immer ist etwas. Immer klopfen sie, oder sie machen Musik, immer bellt ein Hund, marschiert dir jemand über deiner Wohnung auf dem Kopf herum, klappen Fenster, schrillt ein Telefon – Gott schenke uns Ohrenlider. Wir sind unzweckmäßig eingerichtet.“ – Auch wenn es scheinen mag, als stamme diese Klage aus unserer Zeit: Schon 1931 wünschte sich Kurt Tucholsky, aus dessen Roman Schloss Gripsholm dieses Zitat stammt, Ohrenlider, um sich vor den Zumutungen einer akustischen Reizüberflutung zu schützen. Und 2009 konstatierte Jule Greiner in dieser Zeitschrift: „Wir können unsere Ohren nicht einfach verschließen wie unsere Augen. Alles strömt auf uns ein und muss nach Wichtigkeit und Bedeutung unterschieden und verarbeitet werden.“ Und so wird es angesichts der akustischen Umweltverschmutzung unserer Gegenwart immer schwieriger, dafür Sorge zu tragen, „dass bewusstes Hören aus der Stille beginnt“ (Greiner).
Die Kompetenz Hören als Schlüssel zur Musik stand im Zentrum der Veranstaltungsreihe „Ganz.Ohr.Sein“, mit der sich die Musikhochschule Mannheim im Rahmen der „Kleine Fächer-Wochen“ präsentierte. Die „Kleine Fächer-Wochen“ an deutschen Hochschulen sind ein Projekt der Hochschulrektorenkonferenz und sollen „die Stärken und Potenziale der Kleinen Fächer sichtbar und erfahrbar machen“ sowie „ihre Leistungen für Wissenschaft und Alltag verdeutlichen“. In acht Veranstaltungen rund um das Hören untersuchte die Mannheimer Hochschule die „Chancen der Musikpädagogik“. Im Zentrum stand ein Studientag unter dem Motto „Hören – lauschen – lernen“, der sich an Studierende der Musikpädagogik wie Lehrende an Musikschulen gleichermaßen wendete.
In ihrer Einführung unter dem sinnreichen Motto „Ohrenputzer“ weckte Barbara Busch, Professorin für Musikpädagogik an der Mannheimer Hochschule und Organisatorin des Studientags, nicht nur den Hörsinn der Anwesenden durch die Aufgabe, mit geschlossenen Augen verschiedensten Klängen nachzulauschen, sondern eröffnete auch das weite Bedeutungsfeld, in dem sich der Begriff „hören“ verorten lässt. Unerhörte Liebe, unerhörtes Benehmen, hörig, zugehörig – die Bedeutungsvielfalt, die sich rund um das Wort „hören“ ergibt, ist von einem Reichtum, der weit über den akustischen Sinn hinausgeht und darauf verweist, wie eng das Hören mit unseren Emotionen verknüpft ist.
Man hört nur, was man kennt: Die Modifikation des Goethe-Zitats „Man sieht nur, was man weiß“ zog sich wie ein roter Faden durch die weiteren Beiträge des Mannheimer Studientags – und unterstreicht die Wichtigkeit, das Hören von Beginn an zu schulen. Denn „Hören will gelernt sein!“, so das Thema des Vortrags von Reinhart von Gutzeit, ehema­liger Rektor der Universität Mozarteum Salzburg, Mitbegründer und 36 Jahre lang Mitherausgeber dieser Zeitschrift. Der Hörsinn, so von Gutzeit, sei unser erster und letzter Sinn: Er wird bereits im Mutterleib beim Fötus als erster angelegt und ist vermutlich, so man Menschen mit Nahtod-Erfahrungen glauben mag, der letzte, der uns im Angesicht des Todes verlässt. Beim Spracherwerb als langwierigem Prozess spielt der Hörsinn eine zentrale Rolle und ist in der Lage, feinste Laut- und Klangabstufungen wahrzunehmen. Eine Fähigkeit, die – nachdem sich das Zeitfenster der frühesten Kindheit geschlossen hat – beim Lernen einer Zweitsprache nicht mehr zur Verfügung steht.
Liegt es nicht nahe anzunehmen, dass auch das musikalische Hören und damit das Musikverständnis bei frühzeitigem Beginn und kontinuierlicher Weiterführung spürbar verfeinert werden kann? Wie würde es sich auswirken, wenn Kinder von Geburt an von Musik umgeben und durchdrungen wären, so wie sie es von Sprache sind? Ist womöglich, so fragt Reinhart von Gutzeit, ein absolutes Gehör erlernbar?
Was wir nicht kennen, macht uns Angst: In seiner „Kleinen Physiologe des Hörens“ stellte Bernhard Richter-Spahn, Professor für Musikermedizin am Freiburger Institut für Musikermedizin, die Funktion des Ohrs als Wächterorgan heraus. Da es in der Natur keine lauten Geräusche gibt, ist unser Ohr besonders gut im Erfassen leiser Töne und Geräusche. Alles leise ist interessant – und könnte letztendlich auf Gefahr hindeuten und den Fluchtmechanismus mobilisieren. Evolutionär gesehen sind wir – entgegen der Klage Tucholskys – sehr wohl „zweckmäßig eingerichtet“. Ohrenlider wären für das Überleben nicht hilfreich gewesen. Der Hörsinn, so Richter-Spahn, ist der noch am wenigsten erforschte. Noch immer liegen einige Details, wie das Hören exakt funktioniert, im Dunkeln. In seinem begeistert-begeisternden Vortrag verdeutlichte Richter-Spahn die enge Verbindung des Hörens mit der Emotion; welch Faszinosum dieses Organ darstellt – und wie schützenswert es ist oder sein sollte.
Hören wir überhaupt dasselbe? Inneres musikalisches Hören ist Voraussetzung des Musizierens, der Austausch über Klangvorstellungen daher ein wichtiges Element des Unterrichts. Der Workshop von Sebastian Herbst, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Musik­pädagogik an der Universität Paderborn und Redaktionsmitglied von üben & musizieren, thematisierte das Problem, sich sprechend über individuelle Klangvorstellungen auszutauschen. Bei der Verwendung von Bildern, Metaphern oder Assoziationen müssen sich Lehrkräfte immer wieder rückversichern, dass sie mit ihren Schülerinnen und Schülern eine gemeinsame Vorstellung des Bildes oder der Metapher teilen. Die Schwierigkeit, sich über Sprache einem so individuellen Phänomen wie dem Hören zu nähern, muss von Lehrkräften erkannt und immer wieder kritisch reflektiert werden.
Wie also lässt sich das Gehör bilden? Durch Gehörbildung! Doch gerade dieses Fach bewegt sich in Schule wie Hochschule oftmals zwischen trockenen Exerzitien und indivi­dueller Überforderung und ist dementsprechend angstbesetzt. Das weiß auch Almut Gatz, Professorin für Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik Würzburg, und fordert daher, dass auch Gehörbildung von Anfang an gelernt werden müsse – immer eng verknüpft mit Musik. Gehörbildung müsse aus dem Musizieren heraus entstehen, losgelöst vom Notentext, in spielerischer Improvisation. In ihrem Theorie-Praxis-Seminar stellte Gatz eine vokale Improvisationspraxis zum hörenden Musik-Verstehen vor, basierend auf dem Hexachord-System der Renaissance.
Eine ganz eigene Form von „Gehörbildung“ findet immer größeren Zuspruch im Internet. Auf YouTube werden sogenannte ASMR-Videos millionenfach geklickt. ASMR steht für „Autonomous Sensory Meridian Response“ und bezeichnet ein kribbelndes Gefühl auf der Haut, das laut Wikipedia „typischerweise auf der Kopfhaut beginnt und sich entlang des Nackens und der oberen Wirbelsäule bewegt (sogenannte Tingles)“. ASMR wird ausgelöst durch Flüstern oder sehr leise Geräusche und wirkt entspannend und beruhigend. Die Ohren schärfen durch Flüstern, Wispern, Streicheln, den leisesten Klängen der Dinge auf den Grund gehen – es gibt viele Wege, bewusstes Hören aus der Stille zu beginnen.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2020.