Doerne, Andreas

Beziehungsgeflecht

Filmmusik verstehen, spielen und komponieren im Instrumentalunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2016 , Seite 06

Die Behandlung von Filmmusik im Instrumentalunterricht muss sich keinesfalls im bloßen Nachspielen auf dem eigenen Instrument erschöpfen. Es kann auch darum gehen, (Film-)Musik zu verstehen, insbesondere in Bezug auf ihre unterschwellige emotionale Wirkung, Parameter und Feinheiten filmischer Bildsprache bewusst wahrzunehmen, Wechselwirkungen zweier Kunstformen kennenzulernen und zu gestalten, mit digitalen Medien umzugehen, zu improvisieren und zu komponieren.

Filmmusik verstehen

Filmmusik ist Musik in Beziehung
Filmmusik ist etwas anderes als ein auto­nomes Musikwerk, das zwar auch vielfältige versteckte Bezüge beispielsweise zur privaten Lebenssituation des Komponisten oder zur zeitgenössischen gesellschaft­lichen Lage beinhalten kann, im Großen und Ganzen aber doch dafür gemacht ist, allein für sich zu stehen. Musik zum Film ist dies nicht. Sie hat einen Zweck zu erfüllen, nämlich dem Film zu dienen.
Doch Filmmusik als reine Funktionsmusik zu betrachten, als ausschließlich hintergründig wirkende, untergeordnete Dienerin des Bildes, wird der Sache auch nicht gerecht. Musik zum Film leistet zwar immer auch funktionale Dienste, ist meistens aber mehr als das. Sie ist Musik in Beziehung zu filmischen Inhalten. Diese Beziehung kann in Ausnahmefällen monologisch sein – wenn filmische Elemente der Musik eins zu eins diktieren, wie sie zu klingen hat –, meistens nimmt sie aber eher die Gestalt eines Dialoges an. Als gleich­berechtigte Dialogpartnerin ist Filmmusik eine Form von Interpretation des bedeutungstragenden, künstlerischen Gehalts der Bilder beziehungsweise des filmischen Geschehens. Sie ist weder autonom noch rein funktional, sie ist etwas dazwischen, eben Musik in Beziehung.

Paraphrase, Polarisierung, Kontrapunkt
Diese Beziehung von Film und Musik weist unterschiedliche Grade von Freiheit auf. Der Schweizer Musikwissenschaftler Hansjörg Pauli hat dafür drei Begriffe geprägt: Nach seinem Modell kann Filmmusik paraphrasieren, polarisieren oder kontrapunktieren.1
Von einer Paraphrase spricht man, wenn die Musik das visuelle Geschehen des Films imitiert, also weitgehend ans Bild gekoppelt ist. Das Prinzip der Paraphrasierung kennt man vor allem aus Walt-Disney-Cartoons: Schritte einer Figur erscheinen mit einzelnen akzentuierten Portato-Tönen exakt synchronisiert; Bewegungen werden in ihrer Bewegungsrichtung oder Gestik vom melodischen Verlauf der Musik gespiegelt; steht die Figur unerwartet still, verweilt auch die Musik in einer Generalpause. Entsprechend hat sich für eine solch enge Bindung vom musikalischen ans filmische Geschehen die Bezeichnung Mickey-Mousing herausgebildet. Und meist wird diese Bezeichnung in der Absicht verwendet, eine Filmmusik zu diskreditieren, da sie in bloßer Imitation scheinbar jegliche Autonomie und damit künstlerische Würde vermissen lässt.
Man vergisst dabei jedoch leicht, dass gerade Walt Disney in seinen Werken Musik nicht nur „versklavt“ hat, sondern beispielsweise mit dem Trickfilm Fantasia Ende der 1930er Jahre ebenso ein genrebildendes Kunstwerk geschaffen hat, bei dem umgekehrt die Bilder eins zu eins auf vorhandene klassische Musik animiert sind, sozusagen Mickey-Mou­sing in Bezug auf die Bildmontage betrieben wurde. Mit Fantasia entstand einer der ersten Musikfilme, bei dem die Musik das Leitmedium ist, dem sich die Bilder in mimetischer Absicht kunstvoll angleichen. Dieses Prinzip hat sich später unter anderem zum Genre des popmusikalischen Videoclips weiterentwickelt, wo es zum Teil hochgradig ausdifferenziert in Erscheinung tritt.
Bei der polarisierend gestalteten Beziehung kommt der Musik schon eine größere Autonomie zu.2 Hier geht sie zwar ebenso mit bildlichen, dramaturgischen oder figurbezogenen Inhalten des Films mit, tut dies aber aus einer eigenen Perspektive heraus. Vergleichbar mit der Rolle des Chors im klassisch-griechischen Theater oder der Arie innerhalb eines barocken Oratoriums kommentiert die Musik zeitgleich das Filmgeschehen und verstärkt so auf akustischer Ebene die in Bild und Dialogen bereits angelegten dramatur­gischen Elemente. Ein Beispiel für eine solch kommentierende Beziehung von Musik zum Film ist die auf kompositorische Prinzipien Richard Wagners zurückgehende Leitmotivtechnik, bei der einzelnen Protagonisten oder Orten ein eigenes musikalisches Thema zugeordnet wird, das immer erklingt, wenn im Film dieser Protagonist erscheint oder jener Ort im Kopf des Zuschauers evoziert werden soll. Ein Leitmotiv taucht die ihm zugeordnete Person emotional in ein bestimmtes Licht. Es lässt bestimmte Charakterzüge aufscheinen, die für den Zuschauer allein durch das Bild des Protagonisten und durch das, was er sagt, nicht eindeutig erschließbar wären. Ein gelungenes Leitmotiv bereichert die Filmfigur um eine eigene semantische Ebene.
Tritt die Musik in Art eines Kontrapunkts zum filmischen Geschehen in Beziehung, besitzt sie ein hohes Maß an Eigenständigkeit. Zwar immer noch in Bezug zu filmischen Inhalten stehend, sorgt sie für einen maximalen Kont­rast zu dem, was die Bilder erzählen, beziehungsweise eröffnet eine eigene Erzähl­ebene. Unschwer zu erkennen ist die kontrapunktische Bild-Musik-Beziehung, wo Gegen­sätze demonstrativ in Erscheinung treten, wie beispielsweise bei einer mit quasi unbewegten sphärischen Klängen unterlegten Darstellung einer orgiastischen Partynacht. Manchmal ist eine kontrapunktische Beziehung von Bild und Musik aber auch so kunstvoll ins Gesamtgeschehen integriert, dass sie dem Zuschauer nicht direkt ins Auge springt, sondern sich nur durch aufmerksame Wahrnehmung und implizites Filmwissen offenbart, dafür jedoch eine umso tiefergehende Wirkung entfaltet.

1 Hansjörg Pauli: „Filmmusik: ein historisch-kritischer Abriss“, in: Hans-Christian Schmidt (Hg.): Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Perspektiven und Materialien, Mainz 1976, S. 104.
2 Hansjörg Pauli verwendet den Begriff der Polarisierung im Sinne einer „Klärung“ der Bilder dahingehend, dass uneindeutige, unersichtliche beziehungsweise in der Schwebe gehaltene Bildaussagen von der Musik zu einem klaren semantischen Pol hin verschoben werden. Ich bediene mich zwar des Pauli’schen Begriffs, fasse ihn im Folgenden aber in einem etwas weiteren Sinne auf.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2016.