Mahlert, Ulrich
Bildung – Erziehung?
Anregungen zur Verortung von Musizierunterricht
Was findet im Instrumental- und Vokalunterricht statt: Bildung oder Erziehung? Beides? Wie verhalten sich Bildung und Erziehung zueinander? Welche geschichtlich geprägten Vorstellungen haben sie im Schlepptau? Wie sehen sich Lehrkräfte im Spannungsfeld der beiden pädagogischen Leitideen?
Bildung und Erziehung – zwei große pädagogische Begriffe mit langen Diskursgeschichten. Ihre Erörterungen in Bildungstheorien und Erziehungswissenschaften sind so unabsehbar, dass eine Zusammenschau ohne stark verkürzte Perspektiven kaum möglich ist.1 Ein wagemutiger Versuch, die beiden Begriffe und ihr Verhältnis zueinander knapp zu umreißen, könnte vielleicht so lauten: Bildung meint die Entfaltung individueller und sozialer Möglichkeiten von Menschen. Bildung ist immer Selbstbildung. Sie kann nicht von außen „gemacht“, wohl aber angeregt werden. Erziehung erfolgt direktiver. Sie ist auf die Vermittlung bestimmter gesellschaftlich wünschenswerter Eigenschaften und Fähigkeiten ausgerichtet. Pädagogisch betrachtet ist Bildung mit einem primär konstruktivistischen, Erziehung mehr mit einem instruktivistischen Verständnis von Lehren verbunden. Das meint: Im Bildungsvorgang wird der Lernende als das konstruierende Subjekt seines Lernens angesehen, wogegen Erziehung ihn tendenziell als zu instruierendes Objekt von Belehrung auffasst.
Nicht zufällig verbinden sich mit dem Wort Erziehung, das zunächst auch auf Viehhaltung bezogen war, Wörter und Vorstellungen wie Zucht, Aufzucht, Disziplin, gutes Benehmen, Sauberkeit, Pünktlichkeit. Anders das deutsche Wort Bildung: Es entstammt der spätmittelalterlichen Mystik und meinte ursprünglich den erleuchtenden Vorgang der „Einbildung“ Gottes in den Menschen. In der Zeit der Aufklärung, besonders bei Wilhelm von Humboldt, wurde das Wort mit den Idealen der Aufklärung verbunden. Es zielte nun auf Mündigwerden des Einzelnen in beständiger Auseinandersetzung mit der Welt, in der er lebt, wozu die Beschäftigung mit Kultur in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gehört. Dies soll letztlich zu vernunftgeleitetem autonomen Handeln befähigen.
Bildung, Erziehung – musikpädagogisch betrachtet
Bildung und Erziehung lassen sich nicht scharf voneinander abgrenzen. Pädagogisch vermittelte Bildung vollzieht sich nie rein als Selbstbildung, sondern ist durch erzieherische Einwirkungen gelenkt. Entsprechend resultieren aus erzieherischen Maßnahmen Bildungsprozesse, gerade auch dann, wenn sie rigide erfolgen und die Wirkung haben, dass so behandelte Subjekte gegen sie aufbegehren, sich von Gängelung frei machen und Selbstmächtigkeit entwickeln.
Trotz der Schwierigkeit, die beiden benachbarten Begriffe zu bestimmen, lohnt sich gerade für Musikpädagoginnen und -pädagogen eine Beschäftigung mit ihnen. Musik und Musikunterricht sind eng verknüpft mit Vorstellungen von Erziehung und Bildung. Diese haben eine lange Geschichte. Sie wahrzunehmen ermöglicht, das eigene Tun besser zu verstehen und die geschichtlich vermittelten, oft unbewusst vorhandenen und wirksamen Einflüsse der beiden Leitideen wahrzunehmen. Den Faktoren Bildung und Erziehung im Unterrichtsgeschehen nachzugehen, kann helfen, die Intentionen und Muster der eigenen pädagogische Praxis zu klären. Jeder, der Musizieren unterrichtet, steht bewusst oder unbewusst vor der Aufgabe, sich im Spannungsfeld von Bildung und Erziehung zu verorten.
Dass Musizierunterricht heute einen wichtigen Beitrag zu musikalischer Bildung leistet, ist allgemeiner Konsens. Das gilt nicht nur mikroskopisch für jede gute Unterrichtsstunde, sondern auch für institutionelle Zusammenhänge. Musikschulen etwa „erfüllen einen öffentlichen Bildungsauftrag“.2 So lautet das kommunalgesetzlich verbriefte Selbstverständnis des Verbands deutscher Musikschulen. Fasst man Bildung seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach nicht primär als Resultat, sondern als Vorgang auf, dann lässt sich sagen, dass Musizieren in vielerlei Hinsicht „bildet“. Nehmen wir das pädagogische Leitideal der Persönlichkeitsbildung. Musizieren und guter Musizierunterricht vermögen wichtige Elemente dieses pädagogischen Ideals zu entwickeln. Dazu gehören:3
– positives Körpergefühl (den eigenen Körper sensibel wahrnehmen, Bewegungen kultivieren, eutonischen Spürsinn entwickeln)
– Grundvertrauen (Können entwickeln und selbstbewusst vor anderen präsentieren)
– Beziehungsfähigkeit (Zusammenspiel als hohe Schule minutiösen Interagierens)
– stimmiges Selbstwertgefühl (Selbstwahrnehmung im Blick auf realistische Einschätzung eigener Fähigkeiten und Potenziale)
– Normen und Werte (u. a. musikalische und performative Qualitätskriterien, soziales Verhalten, interkultureller Respekt)
– Leistungsbereitschaft (ohne die Musizieren nicht gelingt)4
– selbstverantwortliche Lebensführung (Üben als Fähigkeit des kurz- und längerfristigen Planens von Aufgaben, der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion und somit zur Entwicklung persönlicher Potenziale).5
In rechtlichen Bestimmungen der Institution Musikschule steht der Begriff „Bildung“ im Mittelpunkt. Der Jurist und Kulturpolitiker Oliver Scheytt definiert die Musikschule als „eine öffentliche Bildungseinrichtung sui generis, die Elemente der außerschulischen Jugendbildung, der schulischen Bildung und der Weiterbildung in sich vereint“.6 Aber auch Erziehung gehört zum Aufgabenspektrum von Musikschulen. Lehrkräfte an Schulen haben prinzipiell sowohl einen Bildungs- wie einen Erziehungsauftrag. Bei Musikschulen ist zu bedenken, dass sie nicht den Status von Pflichtschulen besitzen. Dementsprechend lassen sich die Unterrichteten freiwillig oder durch die Delegation von Eltern erziehen. In jedem Fall sind gerade an Musikschulen beim Unterricht von Kindern und Jugendlichen „die Rechte der Eltern der Schüler zu beachten“. Das bedeutet: „Die gemeinsame Erziehungsaufgabe von Elternhaus und Musikschule lässt sich nur in einem sinnvollen Zusammenwirken erfüllen.“7
1 Zur groben Orientierung eignen sich die Artikel „Bildung“ und „Erziehung“ in: Böhm, Winfried: Wörterbuch der Pädagogik, begründet von Wilhelm Hehlmann, 15., überarb. Auflage, Stuttgart 2000, S. 75-77 und 156-157. Einen geschichtlich weitgespannten Überblick geben: Benner, Dietrich/Brüggen, Friedhelm: „Bildsamkeit/Bildung“, in: Benner, Dietrich/Oelkers, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim 2004, S. 174-215 und Oelkers, Jürgen: „Erziehung“, in: ebd., S. 303-340.
2 Verband deutscher Musikschulen: „Was sind Musikschulen?“, www.musikschulen.de/musikschulen/ index.html (Stand: 23.6.2025).
3 Die folgende Zusammenstellung greift zurück auf: Fischer-Epe, Maren/Epe, Claus: Stark im Beruf – erfolgreich im Leben. Persönliche Entwicklung und Selbst-Coaching, Reinbek 2004, S. 24.
4 Mahlert, Ulrich: „Was ist Leistung? Zehn Überlegungen zum Musizierunterricht“, in: üben & musizieren, 2/2016, S. 7-11.
5 siehe dazu: Mahlert, Ulrich: „Was ist Üben? Zur Klärung einer komplexen künstlerischen Praxis“, in: ders. (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen – Konzepte – Methoden, Wiesbaden 2006, S. 27-30 (Abschnitt „Üben als Bildung“).
6 Scheytt: Oliver: Kommunales Kulturrecht. Kultureinrichtungen, Kulturförderung und Kulturveranstaltungen, München 2005, S. 203.
7 ebd., S. 211.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2025.