Bossen, Anja

Bildungsauftrag ade?

Hat der Bildungsauftrag öffentlicher Musikschulen überhaupt noch Gültigkeit?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2014 , Seite 42

“Musikschulen sind öffentliche gemeinnützige Einrichtungen der Musikalischen Bildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie erfüllen einen öffentlichen Bildungs­auftrag.” So ist es auf den Internet­seiten des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) an prominenter Stelle zu lesen. Doch was genau ist mit “Bildungsauftrag” gemeint?

Jahrzehntelang bestand ein Konsens zwischen Bildungspolitik und der Institution Musikschule, was eigentlich mit dem „öffentlichen Bildungsauftrag“ gemeint war: die Aufgabe, als gemeinnützige Einrichtung allen Menschen, die dies wollen, ein spezielles musikalisches Zusatzangebot zusätzlich zu einem verpflichtenden schulischen musika­lischen Angebot zu machen sowie Begabte, die sich die Musikschulgebühren nicht leisten können, dennoch zu fördern. Das erklärte Ziel der Bildungspolitik war also, durch die Institution „öffentliche Musikschule“ Menschen aller Altersgruppen eine erweiterte oder spezialisierte musikalische Bildung zu ermöglichen, und dies rechtfertigte die Finanzierung durch öffentliche Mittel. Als übergeordnete Bildungsziele wurden dabei sowohl künstlerische Ziele im Sinne einer musikalischen Ausbildung als auch Ziele auf der Ebene der Persönlichkeitsentwicklung (Persönlichkeitbildung) verfolgt.
Durch die Veränderungen im Schulsystem, allem voran durch die Einführung der Ganztagsschule und der Schulzeitverkürzung an Gymnasien (G8), aber auch durch die zunehmende und chronische Unterfinanzierung der Musikschulen sind genau diese Ziele, die die Bildungspolitik mit den Musikschulen verfolgt hat, nur noch mit Mühe und oft auch gar nicht mehr zu erreichen. Denn die Veränderungen des Schulsystems haben sowohl Auswirkungen auf das zeitliche Budget von Kindern und Jugendlichen als auch auf deren Lernvoraussetzungen. Hinzu kommt, dass den Musikschulen immer weniger personelle und materielle Ressourcen zur Verfügung ste­hen. Kann der Bildungsauftrag im ursprüng­lichen Sinn, mit seinen bisherigen Zielen und unter den jetzigen Bedingungen überhaupt noch erfüllt werden?

Irgendetwas irgendwie mit Musik?

Bildungswirkungen können sich nur dann einstellen, wenn die Voraussetzungen dazu gegeben sind. Sie können sich nur marginal bis gar nicht einstellen, wenn die SchülerInnen z. B. nach einem langen Tag in der Ganztagsschule übermüdet sind oder wegen schulischen Leistungsdrucks keine Zeit zum Üben haben, es keine Überäume in Schulen gibt oder SchülerInnen nur sehr kurzfristig an einer Maßnahme (z. B. einem Projekt) teilnehmen. Zwar ist es möglich, auch mit ausgepowerten Kindern, mit Schülern, die niemals üben, oder in einer Abstellkammer einer Schule „irgendetwas irgendwie mit Musik“ zu machen – aber wozu? Es wäre zu benennen, welche Ziele ein „Irgendwas-Irgendwie“ statt der bisherigen Bildungsziele haben könnte oder sollte und worin das öffentliche Interesse dabei bestehen könnte.
Wenn der bisherige Bildungsauftrag nicht mehr zu erfüllen ist, weil die Rahmenbedingungen dafür zunehmend fehlen, folgt daraus die Überlegung, wie man denn nun unter den neuen Bedingungen dazu kommen könnte, dass musikalische Bildung sich wieder ereignen kann. Hierzu haben die Musikschulen konkrete Vorschläge und Forderungen ent­wickelt, die bisher von der Bildungspolitik jedoch weitgehend ignoriert werden.
Dies ist auf eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Begriff der „musikalischen Bildung“, wie sie von den Musikschulen verstanden wird – also einem musikpädagogischen Verständnis –, und dem politischen Begriff „musikalische Bildung“ zurückzuführen. Inzwischen sind damit zwei inhaltlich ganz verschiedenen Begriffe gemeint: Während die MusikpädagogInnen sich weiterhin bemühen, ihre ursprünglichen Bildungsziele zu verfolgen und dies auch weiterhin mit dem Begriff „Bildungsauftrag“ meinen, ist der Begriff „Bildungsauftrag“, den die Politik meint, längst ein anderer: nämlich dass Musikschulen so kostengünstig wie möglich so viele Menschen wie möglich (vor allem Kinder und Jugendliche) irgendwie mit Musik beschäftigen sollen. Denn wer einerseits von „Bildung“ spricht, sie aber aufgrund der Rahmenbedingungen gleichzeitig verhindert, kann nicht mehr den bisherigen, musikpädagogischen Bildungsbegriff meinen. Dies zeigt sich konkret darin, dass die Musikschulen unter dem Stichwort „Kooperation“ oder „Vernetzung“ immer neue, zusätzliche Aufgaben erfüllen sollen, ohne dass die Rahmenbedingungen für eine musikalische Bildung im bisherigen Sinn für die neuen Aufgaben geschaffen werden. Seitens der Politik ist längst definiert, dass der neue Auftrag der Musikschulen lautet, möglichst kostengünstig für Beschäftigung statt für Bildung zu sorgen: Der „Bildungsauftrag“ ist auf der poli­tischen Ebene in aller Stille zum „Beschäftigungsauftrag“ mutiert.

Betreuung statt Bildung

Dieser unausgesprochene Paradigmenwechsel seitens der Politik hat tief greifende Auswirkungen auf die Musikschullehrkräfte, die sich aus ihrer Auffassung des Bildungsauftrags heraus unzumutbaren Arbeitsbedingungen ausgesetzt sehen und so an der Ermöglichung musikalischer Bildung zunehmend gehindert werden. Während sie ihre Hauptaufgabe weiterhin darin sehen, Kinder fachlich-musikalisch auszubilden, lautet ihr politischer Bildungsauftrag eigentlich, dass sie sozialpädagogische, musiktherapeutische oder einfach nur Betreuungssaufträge übernehmen sollen. Kein Wunder, dass viele Musikschullehrer nicht mehr wissen, was eigentlich ihr „Auftrag“ sein soll.
Um nun den Begriff „Bildungsauftrag“ in einer bildungspolitischen Diskussion überhaupt weiter sinnvoll anwenden zu können, müsste zunächst seitens der Bildungspolitik klar ausgesprochen werden, welche Aufträge Musikschulen in heutiger Zeit unter den Bedingungen des derzeitigen Schulsystems und der gesamtgesellschaftlichen Lebens­bedingungen haben sollen. Soll musikalische Bildung überhaupt noch das Ziel in einer Gesellschaft sein, in der es um Spaß und Selbst­verwirklichung statt um Bildung geht, deren Aneignung oft auch mühsam sein kann? Auf der Grundlage dieser Diskussion wären anschließend die Ziele der jeweiligen Musikschularbeit abzuleiten, daraus die Methoden und Inhalte, die geeignet sind, die Ziele zu erreichen, und aus diesen wiederum die Bedingungen, die man braucht, um die Methoden und Inhalte adäquat anzuwenden.
Der Begriff der „Qualität“, der neben dem Begriff des „Auftrags“ zurzeit ebenfalls undefiniert durch Diskussionen und Publikationen wabert, würde sich – wenn klar ist, was der öffentliche Auftrag der Musikschulen künftig sein soll – am Erreichungsgrad der jeweils angestrebten Ziele einer Musikschule bemessen können. Da die individuellen Zielsetzungen von Musikschule zu Musikschule auch aufgrund regionaler und struktureller Unterschiede sehr unterschiedlich sein können, würde „gut“ unter Umständen jeweils etwas anderes bedeuten. Eine „gute“ Musikschule wäre letzten Endes eine, die ihre jeweiligen gesetzten Ziele mittels der eingesetzten Methoden und Inhalte erreicht. Um von der „Qualität“ der Musikschule zu sprechen, bedarf es zunächst also einer konkreten Festlegung der Ziele, die sie aufgrund ihres politischen Auftrags verfolgen soll, sei der Auftrag „Bildung für alle, die sich bilden wollen“ oder „irgendwas irgendwie mit Musik verpflichtend für bestimmte Zielgruppen“ zu machen.

Wenn alles geht, geht bald gar nichts mehr

Der Weg, den zurzeit viele Musikschulen beschreiten, nämlich ohne eine Festlegung von konkreten Zielen und unter so schlechten Bedingungen, dass sie in bestimmten Bereichen überhaupt keine Bildung ermöglichen, dennoch jegliche neue von der Politik geforderte Aufgabe zu übernehmen, könnte sich als Irrweg erweisen, der den Musikschulen letzten Endes schwer auf die Füße fällt. Denn wenn immer alles irgendwie geht, egal, wie schlecht die Bedingungen sind, beweisen die Musikschulen, dass sie den Ansprüchen der Politik auch weit unterhalb der von ihnen geforderten Mindestanforderungen für eine Bildungsarbeit voll und ganz genügen.
Und damit ist das eigentliche Ziel der Politik erreicht: Die Kinder und Jugendlichen machen irgendwas irgendwie mit Musik und die Eltern (Wähler) sind zufrieden. In den Augen der Politik ist der öffentliche Auftrag damit erfüllt. Wenn sich dieser „Erfolg“ aber erst einmal eingestellt hat, dürfte keinem einzigen Politiker mehr zu vermitteln sein, dass Musikschularbeit bessere Bedingungen braucht, und über Bildungsqualität zu sprechen, hat sich dann auch erledigt.
Damit allerdings wäre der öffentliche Auftrag der Musikschulen endgültig nicht mehr musikalische Bildung im musikpädagogischen Sinn, sondern ein „Irgendwas-irgendwie“. Und dafür braucht man dann auch keine an Musikhochschulen auf hohem künstlerischen, pädagogischen, methodisch-didaktischen oder sonst irgendeinem Niveau ausgebildeten MusikpädagogInnen und eigentlich überhaupt keine Ausbildungsstätten für Musikschullehrkräfte mehr, denn „irgendwas irgendwie mit Musik“ machen kann schließlich (fast) jeder.

Literatur
– Höppner, Christian: „Ganztagsschule: Fluch oder ­Segen?“, in: musikschule intern 1/2014, S. 14 f.
– Meyer-Clemens, Anna-Maria: Kooperation zwischen ­allgemein bildender Schule und Musikschule. Theorie & Praxis – Bedingungen – Evaluation, Tectum, Marburg 2006
– Verband deutscher Musikschulen: Potsdamer Erklärung, Mai 2014, www.musikschulen-mv.de/neu-potsdamer-erklärung-mai-14

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2014.