Rüdiger, Wolfgang

Blowin’ in the wind

Grundzüge einer allgemeinen Holzbläserdidaktik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2012 , Seite 06

Bläser sind ein eigenes Völkchen. Ihr Element ist die Luft, ihr Instrument ein nach außen gekehrtes Inneres und wie Sänger formen sie den Klang mit Atem, Mund und Zunge aus der Tiefe des Leibes. Sinnlich und intim, singend und sagend sind Ton und Tun der Bläser, aktiv zugleich mit Hand und Mund und ganzem Körper, aus dem der Atem ins Instrument fließt als Abbild und Verlängerung des Organismus.

„Die Structur der Flöte hat eine Aehnlichkeit mit der Luftröhre; und die Bildung des Tones in der Flöte, ist der Bildung des Tones in der menschlichen Luftröhre ähnlich“, sagt Johann Joachim Quantz in seiner Flötenschule.1 Und dieser Leibähnlichkeit entspricht die Lieblichkeit der Blasinstrumente im Ausdruck von Seele, Welt und Gott spätestens seit Wolfgang Amadeus Mozart, der die Holzbläser als „Natur- und Menschenglücksinterpreten, Wind- und Ateminstrumente“ entdeckt und einsetzt.2 Mehr noch: Nach Ernst Bloch beginnt die „Urgeschichte der Musik“ mit einem Blasinstrument: der Panflöte, in die die begehrte Nymphe Syrinx sich verwandelt, „Geburtsstätte der Musik als eines menschlichen Ausdrucks“ und „Ruf ins Entbehrte“.3
Und wenn im 20. und 21. Jahrhundert Luft- und Atemklänge zum Material und Thema neuer Musik werden, so offenbart dies ebenso wie die Tatsache, dass Knochenflöten (Tibia) zu den ältesten Musikinstrumenten gehören, die historisch-anthropologische und ästhetische Bedeutung der Blasinstrumente in der Ge­schichte der Menschheit und ihrer Kunst.
Das Kennenlernen, Reflektieren, Erfahren, Üben und Unterrichten der vielfältigen Aspekte des Blasinstrumentenspiels ist Thema der Fachdidaktik der einzelnen Instrumente. Da Holzblasinstrumente (inklusive Querflöte) jedoch vieles gemeinsam haben (Blechbläser unterscheiden sich davon erheblich, z. B. in Ansatz- und Griffweise), bietet es sich an, die physiologischen und spieltechnischen Grund­lagen in einer übergreifenden Holzbläser­didaktik zu behandeln, als Basis oder Ergänzung der Einzeldidaktik. Das didaktische Miteinander von Flötisten, Oboisten, Klarinettisten und Fagottisten hat den Vorteil, dass die Spielenden voneinander lernen, miteinander üben, sich gegenseitig unterrichten und gemeinsam allgemeine wie instrumentenspezifische Literatur, Lehrwerke, Inhalte und Methoden der Vermittlung entdecken, erarbeiten und entwickeln. Das ist gut für die Übe- und Unterrichtsweise eines jeden Instruments wie für das Ensemble- und Orchesterspiel, das auf gemeinsamen Fundamenten ruht. Ersetzen kann eine allgemeine Holzbläserdidaktik die spezielle Fachdidaktik indes nicht, allenfalls fundieren.
Da die Themengebiete umfangreich und komplex sind, können hier nur die wichtigsten Grundlagen und Prinzipien angesprochen werden. Für das vertiefende Weiterstudium werde ich zu jedem Teilgebiet ausgewählte Literatur empfehlen. Und da meine didaktischen Überlegungen gerne von grundsätz­lichen Fragestellungen ausgehen, habe ich für den folgenden Entwurf einer allgemeinen Holzbläserdidaktik befreundete Holzbläserkolleginnen und -kollegen gefragt: „Was bedeutet es für dich, Bläser/in zu sein?“ Die spontanen Antworten, die ich darauf erhalten habe, mögen die folgenden Ausführungen bereichern.

Atem und Haltung

„Wir geben, wir geben – – – Luft…“
(Jörg Widmann, Klarinettist und Komponist)

„Dass du den Atem transformieren kannst, und der ist ja sehr nah an der Seele dran. Es gibt mir die Möglichkeit, mich in Luft auf­zu­lösen. Darum muss ich aufpassen, dass ich meine Wurzeln noch behalte, weil es so viel Spaß macht, sich in Luft aufzulösen.“
(Gunhild Ott, Flötistin)

Am Anfang stehen Atem und Haltung. Gutes Atmen ist angewiesen auf eine offene, beweg­liche Haltung, die die Räume für die Atembewegungen bereitstellt, wie umgekehrt eine physiologische Atmung, wie sie im Aufbau des Körpers vorgesehen ist, Leib und Seele formt und belebt. Für eine dynamische Haltung als flexibles „Zusammenspiel von Muskeln, die den Körper gegen die Schwerkraft stabilisieren“, sind die wohlgespannte „muskuläre Führung der Wirbelsäule und die elastische Anspannung von Rücken- und […] Bauchmuskulatur“ wesentlich.4 So gründen die normalen Atembewegungen in einer ebenso geerdeten wie aufrechten, durch sanfte Streckung der Halswirbelsäule nach oben ausgerichteten Haltung mit angemessener Längs- und Querspannung.

1 Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, Reprint der Ausgabe Berlin 1752, München und Kassel 1992, S. 40 (IV. Hauptstück. Von dem Ansatze, [Embouchure.] 1. §.).
2 Ivan Nagel: Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München/Wien 1985, S. 76.
3 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (1959). Dritter Band, Frankfurt am Main 51978, S. 1244 f.
4 Eckart Altenmüller: Artikel „Haltung“, in: Lexikon der Flöte. Flöteninstrumente und ihre Baugeschichte – Spielpraxis – Komponisten und ihre Werke – Interpreten, hg. von András Adorján und Lenz Meierott, Laaber 2009, S. 372.

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