Aigner, Fritz

Chamäleons

Ein Film von Fritz Aigner

Rubrik: Filme
erschienen in: üben & musizieren.research 2022


Begeisterung und Idealismus

Ein Film über Instrumentallehrende und ihre Arbeit in vielfältigen musikalischen Praxen


Rezension zu:

Aigner, Fritz (2021). Chamäleons. https://www.chamaeleons-film.at

Rezensent: Michael Dartsch
Rezension veröffentlicht am: 07.02.2022

Dokumentarfilme, in denen Lehrpersonen allgemeinbildender Schulen und ihre Klassen im Mittelpunkt stehen, hat es in den vergangenen zwanzig Jahren mehrfach gegeben. Man denke an Sein und Haben (2002, Regie/Kamera: Nicolas Philibert), einen Film über eine französische Dorfschule, an Meine liebe Frau Schildt (2012, Buch/Regie/Kamera: Nathalie David) mit dem Untertitel Ode an die Grundschule oder an den jüngst erschienenen und mit dem Publikumspreis der Berlinale ausgezeichneten Film Herr Bachmann und seine Klasse (2021, Produktion/Buch/Regie: Maria Speth), der sich vor allem mit der „Beziehung zwischen einem Lehrer und den Schüler*innen der 6. Jahrgangsstufe“ an der Gesamtschule „einer kleinen, westdeutschen Industriestadt“ beschäftigt, „deren Geschichte bis zurück in die NS-Zeit von Migration geprägt ist“ (Grandfilm, 2021).

Im Bereich der Musikpädagogik sind bisher – sieht man von Kongress- und Hochschulvideos ab, die nicht für die Kinoleinwand bestimmt sind – stattdessen einzelne bekannte Programme bzw. Initiativen dokumentiert worden, so in den Filmen Rhythm Is It! (2004, Regie: Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch), El Sistema (2009, Regie: Paul Smaczny und Maria Stodtmeier) und Jedem Kind ein Instrument. Ein Jahr mit vier Tönen (2010, Buch/Regie: Oliver Rauch). Wie im Falle der Filme über Schulklassen und ihre Lehrpersonen stehen hier meist soziale und pädagogische Fragen im Zentrum, häufig kann man in diesen wie in jenen Filmen auch das Leben einzelner Kinder oder Jugendlicher über einen gewissen Zeitraum hinweg verfolgen.

Mit seinem Fokus auf Instrumentallehrpersonen und ihre alltägliche Arbeit füllt der jüngst erschienene Film Chamäleons also eine Lücke. Die Idee hierzu stammt von Silke Kruse-Weber, Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Kunstuniversität Graz, die zusammen mit dem Regisseur Fitz Aigner auch für die Konzeption verantwortlich zeichnet. So fand denn auch an der Kunstuniversität Graz beim dortigen Symposion Challenge accepted 4.0. Herausforderungen im Berufsalltag von Instrumental- und Gesangslehrkräften am 29. Oktober 2021 die Premiere des Films statt. Der Titel des Films geht auf einen Artikel der Musikpädagogin Rineke Smilde (2017) zurück. Hierin hebt die Autorin darauf ab, dass professionelle Musikerinnen und Musiker heute weniger mit festen „Jobs auf Lebenszeit“ rechnen könnten als früher; stattdessen müssten sie „jetzt in verschiedenen kulturellen Kontexten und in wechselnden Rollen tätig sein“ (ebd., S. 6) und daraus individuelle Portfolio-Karrieren entwickeln. Dies beinhalte auch das Einstellen auf wechselnde Kooperationspartnerschaften und neues Publikum. Genau das soll der Begriff des Chamäleons zum Ausdruck bringen, der für den Film übernommen wurde.

Demgemäß könnte man erwarten, dass die Portfolio-Karrieren von Musikerinnen und Musikern und ihr flexibles Agieren am Arbeitsmarkt im Zentrum der Dokumentation stehen. Dies scheint aber allenfalls ein Nebenthema zu sein, das nur anklingt, wenn die Namen von Projekten und Initiativen einzelner Personen eingeblendet werden – etwa Klangwelt 60+ (Filmminute 32). Was man dann und den ganzen Film hindurch hauptsächlich sieht, ist hingegen zum Ersten die konkrete musikpädagogische Arbeit und sind zum Zweiten die Gedanken, die die Protagonistinnen und Protagonisten damit verbinden. Im Laufe des Films lernt man rund ein Dutzend Musikpädagoginnen und Musikpädagogen der Reihe nach in diesen beiden Hinsichten kennen. Häufig findet die Arbeit an der Kunstuniversität Graz oder in ihrem Umfeld statt, was aus pragmatischen Gründen natürlich nahelag.

Die musikpädagogischen Situationen und Reflexionen, die der Film präsentiert, sind durchweg von Freude, Begeisterung und Idealismus geprägt. Es sind wunderbar und kunstvoll gefilmte Szenen (Kamera: Stefan Schmid, Michael Gügerl und Reinhold Ogris) – etwa, wenn die Harfenlehrerin durch die Saiten der Harfe ihrer Schülerin zu sehen ist –, die teilweise anrühren, die von Professionalität gekennzeichnet sind und in denen das Engagement ebenso vorbildlich wirkt wie das Ethos, das der Arbeit zugrunde liegt. Gleichzeitig erschließt sich aufs Ganze gesehen – und nicht zuletzt auch durch die Interview-Ausschnitte mit Silke Kruse-Weber – ein modernes Bild der Instrumentalpädagogik samt der sie leitenden Werte. Diesbezüglich plädiert Kruse-Weber dafür, „wegzukommen von […] traditionellen Wertemaßstäben“ und „aufzumachen für eine Breite und Vielfalt an Möglichkeiten, die das Musizieren bietet“ (Filmminute 61). Im Film reicht diese Vielfalt vom Rachmaninow-Konzert über Blasorchester-Literatur und Rock-Titel bis hin zu freier Improvisation und Sound-Painting. Darüber hinaus wird durchweg eine starke Orientierung an den jeweiligen Schülerinnen und Schülern deutlich – sei es im abwechslungsreich und einfühlsam gestalteten Frühinstrumentalunterricht, sei es in der Arbeit mit erwachsenen Amateuren oder sei es bei der Vorbereitung auf Wettbewerbe in der Förderung Begabter. Damit ist der Film geeignet, Zuschauende, die nicht vom Fach sind, dazu zu veranlassen, überholte Vorstellungen über Instrumentalunterricht zu revidieren. Fachkolleginnen und -kollegen werden möglicherweise Anregungen finden, die eigene Praxis neu zu reflektieren.

Aigner und Kruse-Weber verfolgen so mit Chamäleons einen anderen Plan, als er den zu Beginn erwähnten Filmen zugrunde liegt. Einzelne Schülerinnen und Schüler kommen eher indirekt und nur kurzzeitig in den Blick, sodass man Zusammenhänge zwischen ihrer Entwicklung und dem Unterricht nicht herstellen kann. Soziale Aspekte werden zwar im Interview angesprochen, stehen aber nicht im Zentrum des Interesses. Nachdem sich der Film anfangs ein wenig Zeit für die Harfenlehrerin und die Trompetenschülerin nimmt, scheint er sich im weiteren Verlauf weniger für die Menschen als solche zu interessieren, vielmehr konzentriert er sich ganz auf das Unterrichten des Musizierens und auf die Potenziale dieser Arbeit. Dies kann man sicher als eine Stärke des Films erachten.

Ein Film mit diesem Thema hätte gleichwohl auch noch Bereiche fokussieren können, die hier eher ausgeblendet scheinen. Hätte er noch mehr die Instrumentallehrpersonen selbst in das Zentrum gerückt, so hätten auch deren alltägliche Aktivitäten neben dem Unterricht selbst gezeigt werden können, etwa die Unterrichtsvorbereitung, das eigene Üben, Elterngespräche, Konferenzen, administrative Tätigkeiten und die Wege zu den Unterrichtsorten. All dies hätte ebenso zur Vollständigkeit des Bildes beitragen können wie auch Situationen aus dem instrumentalen Gruppenunterricht, in denen Heterogenität und Diversität aufscheinen, Situationen mit weniger motivierten Schülerinnen und Schülern, als sie im Film zu sehen sind, Situationen, in denen guter Rat teuer ist, Situationen, die Lehrpersonen auch noch zu Hause beschäftigen können und die als Herausforderungen im Berufsalltag im Sinne des Grazer Symposion-Titels verstanden werden könnten. Zwar stellt sich der sozioökonomische Status von Musikschullehrkräften in Österreich insgesamt besser dar als in Deutschland, die Selbstständigkeit dürfte allerdings auch dort nicht immer einfach sein; auch diese Facette einer Portfolio-Karriere tritt im Film hinter der Befriedigung zurück, die der Beruf zu geben vermag. „Das ist meins und ich möchte im Leben nichts anderes machen“, sagt die Harfenlehrerin (Filmminute 11), bezieht dies allerdings auf das Harfenspiel. Nun muss man es dem Film als Verdienst anrechnen, dass er Lehrpersonen auch als Künstlerinnen und Künstler vorstellt. Wenn im Film ihre Namen eingeblendet werden, steht darunter etwa „Harfenistin und Pädagogin“ (Filmminute 4), was ganz der Bezeichnung „künstlerisch-pädagogisch“ für die betreffenden Studiengänge entspricht. Dass es aber viel Disziplin erfordert, neben dem Unterrichten auch das eigene Konzertieren zu pflegen, dass vielleicht auch schon manche Ambition fallen gelassen wurde, wird weniger deutlich, gehört aber sicher zur Biografie mancher Kolleginnen und Kollegen. Wie lohnend es bei alledem ist, „am Ball zu bleiben“ (Filmminute 10), zeigt auch das Lächeln, das schließlich im Gesicht der Schülerin sichtbar wird, wenn sie dem Spiel der Lehrerin zuhört und zuschaut (Filmminute 9).

„Freude am Spiel“ wird auch für die Schülerinnen und Schüler angestrebt (Filmminute 45). Die moderne Sicht auf das Fach, die im Film präsentiert wird, zielt – folgt man Fachtexten zum „Musiziermoment“ (Röbke, 2016a) – nicht zuletzt auf erfülltes Musizieren und entsprechende Erfahrungen unabhängig von der technischen Meisterschaft. So zeigt der Film denn auch viele Momente lebendigen Musizierens und vergleichsweise selten die konzentrierte Arbeit an Spieltechnik, wenngleich deren Bedeutung in den Reflexionen der Lehrpersonen an einzelnen Stellen benannt wird. Es geht nicht in erster Linie darum, Fehler zu vermeiden; vielmehr betont die Geigenlehrerin, dass sie wichtig für das Lernen seien (Filmminute 31), und spricht damit ein weiteres musikpädagogisches Thema, die Fehlerkultur (Kruse-Weber, 2012), an. Wie gut es dem Film gelingt, aktuelle Diskurse aufzugreifen, wird auch deutlich, wenn ein Gesangspädagoge gegen Ende des Films erklärt, für die emotionale Berührung sei weniger die Perfektion als eine gewisse Rauheit entscheidend (Filmminute 78) – hier greift er exakt eine Argumentation Peter Röbkes aus dem Band Musik(unterricht) angesichts von Ereignissen (Röbke, 2016b, S. 111) auf. Diese Rauheit scheint unmittelbar nach der entsprechenden Aussage mit dem Auftritt der Band des Regisseurs illustriert zu werden, der durch die Arbeit am Film tatsächlich motiviert wurde, an seine Band-Erfahrungen aus der Jugend anzuknüpfen und wieder selbst aktiv zu werden. Die Band könnte man schließlich auch als Beispiel für informelles Lernen verstehen, ein weiteres Thema, das in der Musikpädagogik in der letzten Zeit vermehrt Aufmerksamkeit gefunden hat (Ardila-Mantilla, 2018).

Als Jugendlicher gehörte der Regisseur, wie er erzählt, zu den Schülerinnen und Schülern mit einem Mangel an Ehrgeiz, die den Unterricht irgendwann abbrechen (Filmminute 68). Auch dies gehört zur Berufsrealität von Instrumentallehrkräften, wird aber im Film nicht weiter thematisiert. Hinsichtlich der Tatsache, dass gewisse Bereiche des instrumentalpädagogischen Alltags hier eher weniger zum Tragen kommen, sei noch einmal an die möglichen Zielgruppen des Films gedacht. Fachlichen Laien könnte ein idealisiertes Bild des Berufs vermittelt werden. Bei Fachkolleginnen und -kollegen könnte sich durch den idealistischen Grundton des Films ein Gefühl der Minderwertigkeit einstellen. Vielleicht muss man dies in Kauf nehmen, wenn man möchte, dass der Berufsstand einmal auf der großen Leinwand zu seinem Recht kommt und dass die Potenziale instrumental- und gesangspädagogischer Arbeit einmal wirkungsvoll ins Bewusstsein eines hoffentlich größeren Publikums gehoben werden.

Literaturverzeichnis
Ardila-Mantilla, N. (2018). Außerinstitutionelle Lernräume. In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz & C. Stöger (Hg.), Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse (S. 397–405). Münster: Waxmann.
Grandfilm (2021, 31. Dezember). Herr Bachmann und seine Klasse. https://grandfilm.de/herr-bachmann-und-seine-klasse/
Kruse-Weber, S. (Hg.) (2012). Exzellenz durch differenzierten Umgang mit Fehlern. Kreative Potenziale beim Musizieren und Unterrichten. Mainz: Schott.
Röbke, P. (2016a). Von der Unverfügbarkeit des Musiziermoments. Eine Spurensuche in der Instrumentalpädagogik. In N. Ardila-Mantilla, P. Röbke, C. Stöger & B. Wüstehube (Hg.), Herzstück Musizieren. Instrumentaler Gruppenunterricht zwischen Planung und Wagnis (S. 45-64). Mainz: Schott.
Röbke, P. (2016b). Von Wider-ständen und Wider-Fahrnissen beim Instrumentalspiel und Gesang. In M. Hirsch (Hg.), Musik(unterricht) angesichts von Ereignissen. Wiener Reihe Musikpädagogik, Band 1 (S. 109–121). Münster: Waxmann.
Smilde, R. (2017). Wie ein Chamäleon! Musikerinnen und Musiker müssen sich heute flexibel den unterschiedlichsten Herausforderungen stellen. üben & musizieren 2/2017, 6-10.

Prof. Dr. Michael Dartsch
Hochschule für Musik Saar
Bismarckstraße 1
66111 Saarbrücken
E-Mail: m.dartsch@hfm.saarland.de
Forschungsschwerpunkte: Musikalische Bildung, Elementare Musikpädagogik, Didaktik im Bereich des außerschulischen Musikunterrichts