Chinesische Klaviermusik
Werke des 20. Jahrhunderts. Auswahl und Einführung von Jingxian Xie
Während europäische Klaviermusik in China überall mit Begeisterung gespielt und gehört wird, ist chinesische Klaviermusik in Europa weithin unbekannt. Das Klavier, ein europäisches Instrument, gelangte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach China. Mit seinem chromatischen Tonvorrat, seinen reichen harmonischen und polyfonen Möglichkeiten steht es genuin chinesischer, hauptsächlich pentatonischer und primär einstimmiger Musik fern. Trotzdem – oder gerade deshalb – wurde das Klavier in China alsbald beliebt.
Chinesische Klaviermusik bildet zumeist eine Synthese aus europäischen und traditionell chinesischen Elementen. Viele Werke basieren auf Volksmusik, insbesondere auf populären und patriotischen Liedern, und verbinden dieses Material mit häufig motorisch geprägten Klaviersatztechniken europäischer Provenienz. Chinesisches Idiom findet sich ferner in pianistischen Nachahmungen des Klangs verschiedener traditioneller Musikinstrumente. Dazu gehören das Doppelrohrblattinstrument Suona, das Streichinstrument Erhu, die Laute Pipa, das Hackbrett Yangqin sowie Trommeln und Gongs. Zahlreiche Werke knüpfen an lokale Musiktraditionen an und verherrlichen die Naturschönheiten berühmter Landschaften des Riesenreichs.
Diesem stilistischen Umfeld gehören die im vorliegenden Band zusammengestellten zehn Klavierwerke an. Sie stammen aus dem Zeitraum von 1949 bis 1979, also aus den ersten drei Jahrzehnten der Volksrepublik China. Neben einfachen Stücken finden sich Werke mit beträchtlichen pianistischen Ansprüchen. Die meisten vertretenen Komponisten (eine Komponistin sucht man vergebens) wirkten bzw. wirken am Musikkonservatorium Shanghai. Viele von ihnen haben auch außerhalb Chinas studiert und sich mit westlicher, nicht zuletzt auch sowjetischer Musik beschäftigt. Die westliche Avantgarde wurde dabei ausgeklammert; erst nach der allmählichen kulturellen Öffnung Chinas ab 1976 konnten chinesische Komponisten mit normsprengenden musikalischen Neuerungen hervortreten.
Der vorliegende Band wurde von der 1983 geborenen, in Shanghai lehrenden Pianistin Xie Jingxian ursprünglich für People’s Music Publishing House in Peking besorgt. Der Henle-Verlag legt die Sammlung als Lizenzausgabe für die Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz vor. Sie vereint in China viel gespielte Klavierwerke und kann als repräsentative Auswahl gelten. Mit chinesischer Musik nicht oder wenig vertraute KlavierspielerInnen bietet der Band viel Interessantes. Wertvoll sind auch die ausführlichen Informationen der Herausgeberin zu den Komponisten und zu den Hintergründen und Besonderheiten der ausgewählten Kompositionen. Die Hinweise zur Ausführung bleiben teilweise etwas flach. Nützlich sind die sparsam gesetzten Fingersätze. Mit seiner instruktiven Vermittlung chinesischer Klaviermusik erfüllt der Band ein wichtiges und längst überfälliges Desiderat.
Ulrich Mahlert